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Themen und Begriffe / Subjects and Definitions

 

 

Am 14. September 2007 hat Guido Westerwelle in der „Welt“ eine Besprechung von Naomi Kleins Buch „Die Schock-Strategie“ veröffentlicht:

 

http://www.welt.de/kultur/article1183974/Plump_wie_Oskar_Naomi_Kleins_neues_Buch.html

 

Am 12. April 2009 hatte ich meinen Kommentar dazu auf der Webseite 2009-finanzkrise.de mit folgendem Vorspann veröffentlicht:

 

Auf diese Besprechung hatte ich einen ausführlichen Kommentar geschrieben und auf der betreffenden Webseite der „Welt“ eingestellt. Dort war er lange zu lesen, bis er vor einiger Zeit wieder verschwunden ist. Warum, darüber will ich hier nicht philosophieren. Auf jeden Fall wird der Kommentar hier wieder eingestellt.

 

Zu bemerken ist: Sowohl Naomi Kleins Buch, als auch Westerwelles Verrissversuch, als auch mein Kommentar dazu wurden alle VOR der Finanzkrise verfasst. Damals schrieb Naomi Klein noch gegen die allgemeine „neoliberale“ Besoffenheit an, wie sie damals auch die veröffentlichte Meinung in Deutschland fest im Griff hatte. Damals, so kurz es doch erst her ist, und doch noch eine völlig andere Zeit. Dass die neoliberale Marktgläubigkeit in die Inhumanität und in die Krise führen würde, das konnte man freilich auch schon vor der Finanzkrise wissen, an vielen Orten auf dieser Welt sehen oder wenigstens nachlesen (etwa bei Naomi Klein).

 

Für diejenigen, die die echten Verlierer der neoliberalen Weltordnung sind, war es auch schon vor der Finanzkrise katastrophal, vor allem wir hier in den reichen Ländern sind diejenigen, die vor allem in der Finanzkrise seit Herbst 2008 das grosse Debakel sehen. Wie dem auch sei, die Finanzkrise lässt das Weltbild eines Guido Westerwelle nicht eben besser aussehen.

 

Hier nun unverändert mein Kommentar vom 18. Februar 2008.

 

 

„Plump wie Guido“ – Guido Westerwelle rezensiert Naomi Klein. Eine Kritik

 

 

KURZVERSION:

 

„Plump wie Guido“, das paßt am ehesten zu diesem äußerst plumpen Verriß-Versuch. Westerwelle zieht sich ganz auf seine primitive neoliberale Ideologie zurück und erweist sich als faktenresistent. Seine Ausführungen sind voll offener und versteckter Verdrehungen, Unterstellungen und Simplifizierungen, so dass man geradezu von Demagogie sprechen muß. Große Teile des Buches hat er wohl überhaupt nicht gelesen.

 

Das zeigt sich gleich am Anfang, wo es um die Zustände in New Orleans nach dem Hurrikan „Katrina“ geht. Westerwelle mokiert sich darüber, dass Naomi Klein sich über Dinge „entsetzt“ (wohl weil sie das so wolle), die doch gut seien. Etwa „Unternehmer, die den Neuanfang auch als Chance begreifen“. Was Westerwelle nicht fragt und fragen will: Chance wozu und für wen? Chance für eben diese Unternehmer, an wertvollen Baugrund zukommen und große Profite zu machen. Die Chance, die sozial Schwachen loszuwerden. Ein Grossteil von ihnen ist immer noch nicht in ihre Wohnungen zurückgekehrt und wird auch nie zurückkehren. „Maroden Sozialbauten“ stellt Westerwelle die neuen Eigentumswohnungen als angeblich doch positiven Wiederaufbau gegenüber. Aber: Wohnungen für wen? Für diejenigen natürlich, die sich das leisten können, nicht für die früheren Bewohner dieser „maroden Sozialbauten“. Und warum, das hätte sich Westerwelle doch fragen müssen, waren die Sozialbauten so marode? Weil unter dem neoliberalen Dogma der Staat sich aus immer mehr Aufgaben und Verpflichtungen vor allem im Sozialbereich verabschiedet hat und deswegen die Sozialwohnungen marode werden ließ. Dasselbe gilt für die Schulen. Warum waren denn die öffentlichen Schulen „wüste Verwahranstalten“, wie sie Westerwelle nennt? Eben aus dem Grund, dass sie auf Grund des neoliberalen Dogmas kaputtgespart worden sind. Aber das sagt Westerwelle natürlich nicht.

 

Westerwelle wirft Naomi Klein vor, sie „dekliniere“ ein starres „Muster“ für alle Länder durch, sie habe eine „kruden Weltsicht“, ihr Gedankengebäude sei „hermetisch“ und unduldsam: „Widerrede ist Ketzerei“. Hier hat er wohl von sich auf andere geschlossen, denn was Naomi Klein bringt, sind für viele Länder ordentlich recherchierte Tatsachenberichte. Unabhängig von der Kleins Wertung sprechen die Fakten für sich und damit für die Autorin. Wenn Westerwelle hier ein starres „Muster“ sieht, dann liegt es nicht an der Berichterstatterin sondern daran, dass eben ähnliche Muster ständig wiederholt worden sind.

 

Und das ist im Zeitalter der Globalisierung auch nicht weiter verwunderlich, wenn dieselben weltweit agierenden und mit großer Machtfülle ausgestatteten Institutionen, zum Teil repräsentiert durch dieselben Personen, dieselben mächtigen globalen Unternehmen, die alle demselben Weltbild anhängen und dieselben Rezepte verwenden, die ähnliche Interessen verfolgen, auch überall Dasselbe oder ganz Ähnliches tun und dieselben Konsequenzen verursachen. Wer sich darüber wundert, muß naiv sein. Wer wie Westerwelle einerseits die Globalisierung glorifiziert, wenn es um ihre (oft nur vermeintlichen) Vorteile geht, andererseits aber dann, wenn von ihren globalen negativen Auswirkungen die Rede ist, so tut, als gäbe es so etwas wie Globalisierung, also eine weltweit einheitliche Entwicklung, hierbei gar nicht (denn das bedeutet der Vorwurf, Naomi Klein „dekliniere“ ein „starres Schema“ für alle Länder durch), ist schlichtweg unglaubwürdig. Auch der Vorwurf an späterer Stelle, Naomi Klein verbreite eine „globale Verschwörungstheorie“, ist ebenso albern, da Naomi Klein nichts anderes tut als dass sie das internationale Schema der Globalisierung und die Akteure benennt.

 

Es ließen sich sogar noch viel mehr Länder finden, die Naomi Klein überhaupt nicht erwähnt, wo aber genau dasselbe passiert ist. Beispiel Peru; Das Land wurde 1990 nach der Wahl von Alberto Fujimori zum Präsidenten dem sog. „Fujischock“ ausgesetzt. Hinter den Kulissen zog der IWF in enger Beratung mit dem US-Finanzministerium die Fäden. An einem einzigen Tag stieg der Benzinpreis um das 31-fache, der Brotpreis um das 12-fache. Und das war erst der Anfang…

 

Die Berichte in Zweifel zu ziehen versucht Westerwelle mit einer Formulierung wie „Klein sagt, die Kluft in Südafrika habe sich vergrößert“. Das sagt sie, aber die Kluft hat sich vergrößert, auch ohne dass Klein das sagt. – Westerwelle kritisiert, dass Naomi Klein die „Elektroschock-Versuche der CIA in den „Fünfziger Jahren“ als „krude Metapher“ für das Böse in der Wirtschaft“ gebrauche. Westerwelle erweckt hier den Eindruck, Naomi Klein habe „olle Kamellen“ ausgekramt, „aus den Fünfziger Jahren“. Was er einfach verschweigt, ist, dass Naomi Klein nicht bei diesen alten Versuchen stehen bleibt, sondern dass sie darstellt, wie sehr diese die Grundlage bildeten für die Art Folter, die die USA heute weltweit ausüben oder ausüben lassen. Dass die USA foltern (lassen), das passt nicht in Westerwelles Weltbild oder sein Kalkül (zu entscheiden, was von beidem zutrifft, fällt mir hier schwer – aber nicht nur hier), also lässt er es einfach weg.

 

Das muß hier genügen. Westerwelle lässt die Rezension mit einer Aneinanderreihung neoliberaler Dogmen ausklingen, ideologische Sprüche ohne Substanz. Der Neoliberalismus ist eine dogmatische Ideologie, eine Heilslehre, und darin dem Sowjetkommunismus durchaus vergleichbar. Man kann Westerwelles Formulierungen fast Satz für Satz auseinandernehmen und zeigen, wie viel Demagogie, bewusste Auslassungen und Verdrehungen darin stecken. Das finden Sie in der folgenden ausführlichen Version.

 

Die mehrmaligen Anspielungen auf Oskar Lafontaine bestärken den Eindruck, dass Westerwelle hier als Dauer-Wahlkämpfer und nicht als ernstzunehmender Rezensent aufgetreten ist. Seine Sache ist der Lagerwahlkampf nach der mittlerweile grotesk anachronistischen Melodie „Freiheit statt Sozialismus“. Nur wenn die „Linke“ unter 5 % bleibt, hat die FDP eine Chance auf eine Regierungsbeteiligung in einer schwarz-gelben Koalition. So jetzt in Hessen, wie dann auch im Bund. Das alles hat mit Naomi Kleins Buch und ihrer Schilderung der Globalisierung rein gar nichts zu tun.

 

Wir haben alle etwas Besseres verdient als eine Globalisierung nach neoliberalem Muster und einen „Plump wie Guido“-Lagerwahlkampf.

 

VOLLSTÄNDIGE VERSION:

 

Alois Glück, der Leiter der CSU-Grundsatzkommission: „Die Gerechtigkeitsfrage ist keine linke Frage.“ (SZ, 1.2.2008)

 

„Plump wie Guido“, das paßt am ehesten zu diesem äußerst plumpen Verriß-Versuch. Westerwelle zieht sich ganz auf seine primitive neoliberale Ideologie zurück und erweist sich als faktenresistent. Seine Ausführungen sind voll offener und versteckter Verdrehungen, Unterstellungen und Simplifizierungen, so dass man geradezu von Demagogie sprechen muß. Große Teile des Buches hat er wohl überhaupt nicht gelesen.

 

Das zeigt sich gleich am Anfang. Naomi Klein beginnt mit den Zuständen in New Orleans nach dem Hurrikan „Katrina“. Westerwelle mokiert sich darüber, dass Naomi Klein „entsetzt“ sei über das, was sie dort traf, nämlich „Unternehmer, die den Neuanfang auch als Chance begreifen“. Was Westerwelle nicht sagt: Chance wozu und für wen? Chance für eben diese Unternehmer, an wertvollen Baugrund zukommen und große Profite zu machen. Die Chance, die sozial Schwachen loszuwerden. Ein Grossteil von ihnen ist immer noch nicht in ihre Wohnungen zurückgekehrt und wird auch nie zurückkehren. „Maroden Sozialbauten“ stellt Westerwelle die neuen Eigentumswohnungen als angeblich doch positiven Wiederaufbau gegenüber. Aber: Wohnungen für wen? Für diejenigen natürlich, die sich das leisten können, nicht für die früheren Bewohner dieser „maroden Sozialbauten“. Und warum, das hätte sich Westerwelle doch fragen müssen, waren die Sozialbauten so marode? Weil unter dem neoliberalen Dogma der Staat sich aus immer mehr Aufgaben und Verpflichtungen vor allem im Sozialbereich verabschiedet hat und deswegen die Sozialwohnungen marode werden ließ. Dasselbe gilt für die Schulen. Warum waren denn die öffentlichen Schulen „wüste Verwahranstalten“, wie sie Westerwelle nennt? Eben aus dem Grund, dass sie auf Grund des neoliberalen Dogmas kaputtgespart worden sind. Aber das sagt Westerwelle natürlich nicht.

 

„Unglaublichen Zynismus gegenüber Israel“ wirft Westerwelle der Autorin vor. Aber was tut sie mehr, als eine Wahrheit auszusprechen? Was soll man von der Friedenbereitschaft eines Staates halten, der in immer stärkerem Umfang vom Gebiet des Gegners für sich abzwackt? Der Grenzwall wird zum größten Teil nicht auf eigenem, sondern auf besetztem Territorium errichtet. Der größte Teil der Wasservorräte wird ins eigene Land umgeleitet, die Palästinenser buchstäblich auf dem Trockenen sitzen gelassen. Immer mehr jüdische Siedler lassen sich auf Palästinensergebiet nieder, beanspruchen Land, Zufahrtswege, Ressourcen. Wie soll so Frieden möglich sein? Was ist Israel für den Frieden zu geben bereit? Was ist wichtiger, Gewinn von Gebiet und Ressourcen, die Ruhigstellung einer unbequemen Wählergruppe wie der Siedler, oder der Frieden? Hat Israel sich nicht schon eindeutig entschieden?

 

Westerwelle wirft Naomi Klein vor, sie „dekliniere“ ein starres „Muster“ für alle Länder durch, sie habe eine „krude Weltsicht“, ihr Gedankengebäude sei „hermetisch“ und unduldsam: „Widerrede ist Ketzerei“. Hier hat er wohl von sich auf andere geschlossen, denn was Naomi Klein bringt, sind für viele Länder ordentlich recherchierte Tatsachenberichte – eben der Tatsachen, die sich in den einzelnen Ländern zugetragen haben. Wenn Westerwelle hier ein starres „Muster“ sieht, dann liegt es nicht an der Berichterstatterin sondern daran, dass eben ähnliche Muster ständig wiederholt worden sind.

 

Und das ist im Zeitalter der Globalisierung auch nicht weiter verwunderlich, wenn dieselben weltweit agierenden und mit großer Machtfülle ausgestatteten Institutionen, zum Teil repräsentiert durch dieselben Personen, dieselben mächtigen globalen Unternehmen, die alle demselben Weltbild anhängen und dieselben Rezepte verwenden, die ähnliche Interessen verfolgen, auch überall Dasselbe oder ganz Ähnliches tun und dieselben Konsequenzen verursachen. Wer sich darüber wundert, muß naiv sein. Wer wie Westerwelle einerseits die Globalisierung glorifiziert, wenn es um ihre (oft nur vermeintlichen) Vorteile geht, andererseits aber dann, wenn von ihren globalen negativen Auswirkungen die Rede ist, so tut, als gäbe es so etwas wie Globalisierung, also eine weltweit einheitliche Entwicklung, hierbei gar nicht (denn das bedeutet der Vorwurf, Naomi Klein „dekliniere“ ein „starres Schema“ für alle Länder durch), ist schlichtweg unglaubwürdig. Auch der Vorwurf an späterer Stelle, Naomi Klein verbreite eine „globale Verschwörungstheorie“, ist ebenso albern, da Naomi Klein nichts anderes tut als dass sie das internationale Schema der Globalisierung und die Akteure benennt.

 

Es ließen sich sogar noch viel mehr Länder finden, die Naomi Klein überhaupt nicht erwähnt, wo aber genau dasselbe passiert ist. Beispiel Peru; Das Land wurde 1990 nach der Wahl von Alberto Fujumori zum Präsidenten dem sog. „Fujischock“ ausgesetzt. Hinter den Kulissen zog der IWF in enger Beratung mit dem US-Finanzministerium die Fäden. An einem einzigen Tag stieg der Benzinpreis um das 31-fache, der Brotpreis um das 12-fache. Und das war erst der Anfang… Ein weiteres Beispiel ist Somalia, wo der vom IWF auferlegte strikte Spar- und „Reform“kurs Kleinbauern wie Nomaden ihrer Lebensgrundlagen beraubte und zur völligen Auflösung der Gesellschaft und des Staates führte oder doch entscheidend dazu beitrug. Beispiel Ruanda … Vietnam …

 

Westerwelles Formulierung, Naomi Kleins „Kernthese“ sei: „Der freie Markt hängt von der Macht des Schocks ab“, ist schon extrem verkürzt und vereinfacht, immerhin kann Westerwelle damit die Autorin bei seiner neoliberalen Leserschaft unglaubwürdig erscheinen lassen. Genauer, aber weniger plakativ formuliert, müsste man sagen, dass nach Naomi Klein für den „freien Markt“ neoliberaler Vorstellung alle Regulierungen und Barrieren weltweit fallen müssen. Das lässt sich in allen Ländern am ehesten in Krisensituationen erreichen, in denen ein Land geschwächt und damit einerseits auf äußere Unterstützung angewiesen ist, andererseits die Widerstandskräfte der Öffentlichkeit durch die Krise paralysiert sind. Naomi Klein nennt das den „Schock“, unter dem die Öffentlichkeit steht – der durch einen Militärputsch, einen Börsenkrach oder auch eine Naturkatastrophe ausgelöst sein kann. Westerwelle kann damit offenbar nichts anfangen, das zeigt sich auch an späterer Stelle, wo er  schreibt: „Ihre krude Metapher für das Böse der Wirtschaft sind die Elektroschock-Versuche der CIA in den Fünfzigerjahren“.

 

Krude Metapher? Naomi Kleins These ist, dass sich Staaten und Gesellschaften in Krisensituationen („unter Schock“) ähnlich verhalten wie Individuen, dass Gesellschaften wie Individuen dann bereit sind, Dinge zu tun und zuzulassen, die sonst unmöglich wären. So neu ist das nicht – schon andere sind bei der Untersuchung des Verhaltens von Unternehmen zu der Annahme gekommen, dass sich Unternehmen in Krisensituationen ähnlich irrational wie Individuen verhalten (s. etwa Peter Belker, Frauke Heimbrock, Erfolgsfaktor Krise. Zur Psycho-Logik der Krise, in: Zeitschrift Risk, Fraud & Governance 2, 2006, S. 63–68). Ist die Übertragung auf Gesellschaften dann so abwegig? Kleins Beispiel für Individuen, die in einen Schockzustand versetzt werden, um ihren Widerstand zu brechen, sind die Opfer von Elektroschockfolter. Westerwelle erweckt hier den zusätzlichen Eindruck, Naomi Klein habe „olle Kamellen“ ausgekramt, „aus den Fünfziger Jahren“. Was er einfach verschweigt, ist, dass Naomi Klein nicht bei diesen alten Versuchen stehen bleibt, sondern dass sie darstellt, wie sehr diese die Grundlage bildeten für die Art Folter, die die USA heute weltweit ausüben oder ausüben lassen. Dass die USA foltern (lassen), das passt nicht in Westerwelles Weltbild oder sein Kalkül (zu entscheiden, was von beidem zutrifft, fällt mir hier schwer – aber nicht nur hier), also lässt er es einfach weg (Wer es nicht glauben will, lese das Buch von Alfred McCoy, Foltern).

 

Der Gebrauch des Begriffes „Schock“ für das, was sich unter neoliberalen Vorzeichen in vielen Ländern abgespielt hat, ist im Übrigen keine Erfindung von Naomi Klein. Wir finden ihn immer wieder verwendet – von Betroffenen, von Beobachtern, von Kritikern dieser Vorgänge wie auch von den Akteuren und neoliberalen Theoretikern selbst. Naomi Kleins Buch ist voll von derartigen Äußerungen – man lese sie selbst dort nach. Wenn Westerwelle sich darüber aufregt, hat er wohl die letzten fünfzehn Jahre verschlafen. Auch zu Wortneuschöpfungen gab der neoliberale Schock lange vor Naomi Klein Anlaß. Da gibt es den Begriff „Fujischock“ für das, was sich nach dem Amtsantritt von Präsident Alberto Fujimori 1992 in Peru tat.

 

Daß man zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen konnte, wenn ein anderer unter Schock stand, wusste man schon im alten Rom. Marcus Licinius Crassus (115–53 v. Chr.), für seinen skrupellos zusammengerafften Reichtum berüchtigt, hatte ein besonderes Verfahren, sich in den Besitz großer Teile des antiken Rom zu setzen. Er gründete eine aus 500 Sklaven bestehende Feuerwehr- und Bauhandwerkertruppe, und sobald irgendwo ein Brand ausbrach – und das geschah im antiken Rom sehr oft – erschien er mit seiner Feuerwehr und kaufte den unglücklichen Besitzern für einen Bruchteil des Wertes die Häuser ab, während diese noch brannten. Erst dann wurde gelöscht. Crassus bemühte sich auch, möglichst viele der umliegenden Häuser in seinen Besitz zu bekommen, „welche die Eigentümer aus Furcht und wegen der Unsicherheit des Kommenden um einen geringen Preis hergaben.“ Im Großbetrieb ließ er dann schöne Neubauten errichten, deren hohe Mieten das Kapital schnell amortisierten und bald satte Erträge abwarfen (Plutarch, Crassus, 2,5; 34,1). Westerwelle hat auch 2000 Jahre später noch nichts davon mitbekommen, dass eine solche Taktik Erfolg hat. Auch sonst ist es sehr lehrreich, nachzulesen, was diesem Crassus so alles einfiel, um zu Geld und Macht zu kommen – er würde perfekt in unsere Zeit und die Schöne Neue Neoliberale Welt passen.

 

Und so ist es auch Unsinn, wenn Westerwelle schreibt: „Dieses Muster tauft sie ‚Katastrophen-Kapitalismus’“. Das erweckt den Eindruck, Naomi Klein habe diesen Begriff und seine Bedeutung neu kreiert – aber so neu sind die Fuji- und andere Schocks nicht mehr.

Unter „Katastrophen-Kapitalismus“ subsummiert Naomi Klein auch die expandierende Branche der Sicherheits- und Katastrophenschutz-Dienstleistungen, die sie am Beispiel Irak, New Orleans und Israel festmacht. Abwegig, wie Westerwelle suggerieren will, ist das nicht, sondern Fakt. Douglas Lloyd, der Direktor von Venture Business Research: „Die Ausfallrate bei Sicherheits-Geschäften ist viel geringer als bei sauberen Techniken, und, genau so wichtig ist, dass das zu investierende Kapital, das für ein Sicherheitsgeschäft notwendig ist, auch viel geringer ist.“ Das kommentiert Naomi Klein so: „Mit anderen Worten, die wirklichen Probleme zu lösen, ist schwierig, aber aus diesen Problemen seinen Profit zu ziehen, ist leicht.“ (Naomi Klein, The Market has Spoken, in The Nation, 29.11.2007). Zum profitablen Geschäft mit der „Sicherheit“ lese man Jeremy Scahill, Blackwate, und Peter Warren Singer, Die Kriegs-AGs.

 

Westerwelle hat auch nie versucht, den Tatsachenberichten zu widersprechen, sondern geschickt hängt er sich an den Wertungen und Folgerungen der Autorin auf. Aber auch ohne diese sprechen die Fakten für sich und damit für die Autorin. Wo macht Westerwelle seinen Vorwurf fest? Er schreibt, nach Naomi Klein habe es „jeweils in einem Land eine Umbruchsituation gegeben, die die Chance zur Neuverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands geboten habe, doch stattdessen seien die Interessen des Volkes verraten worden …“. Unter den nach Westerwelle angeblich Hoffnung weckenden Situationen finden wir den Hurrikan Katrina, den Tsunami in Südostasien, die durch ein Börsengerücht ausgelöste Asienkrise, den Schuldenkollaps von Bolivien… Wie ernst soll man das nehmen?

 

Naomi Kleins Buch ist zudem mit Belegen gespickt (72 S. Anmerkungen), wie kann man es dann doch schön madig machen, die Glaubwürdigkeit in Zweifel ziehen? Hier ist sprachliche Akrobatik gefragt („durchdeklinieren“, „Muster“, „hermetisch“ etc.), so schreibt Westerwelle: „Was ihre Arbeitsweise anbelangt, mischt Naomi Klein die Exegese von Studien und Statistiken, von Politik und Wirtschaftsgeschichte mit Zeitungsrecherche und persönlichen Eindrücken aus Gesprächen überall auf der Welt mit solchen Personen, die sich selbst als Sprecher der Entrechteten begreifen und eben deshalb von Frau Klein besucht und zitiert werden.“ Das soll abwertend klingen und den Eindruck von Oberflächlichkeit hervorrufen, bewirkt aber das genaue Gegenteil: Westerwelle kann nichts anderes sagen, als dass Naomi Klein alle denkbaren Informationsquellen ausgewertet hat, auch wenn er etwas ganz anderes sagen wollte. Nun, mit „Sprechern der Entrechteten“ in der Welt würde vielleicht ein Westerwelle nicht reden – dem Leser möchte Westerwelle hier aber den ganz falschen Eindruck vermitteln, als lasse Naomi Klein nur eine Seite zu Wort kommen. Und eben genau das tut sie nicht: das Buch ist gespickt voll mit Aussagen von Anhängern des Neoliberalismus und neoliberalen „Reformern“ aus allen Ländern – Aussagen, die diese Leute freilich an Ihresgleichen gerichtet haben, wo sie denn auch ganz offen sein konnten. Diese Aussagen sind für alle Betroffenen wie auch für alle, die sich noch etwas Verstand bewahrt haben und deren Welt nicht nur aus Profitmaximierung besteht, schockierend. Das hört sich für Westerwelle natürlich nicht gut an, dass seine Glaubensbrüder Frau Klein selbst die beste Munition geliefert haben, also dreht er es lieber hin wie oben zitiert.

 

Die Berichte in Zweifel zu ziehen versucht Westerwelle mit einer Formulierung wie „Klein sagt, die Kluft in Südafrika habe sich vergrößert“. Das sagt sie, aber die Kluft hat sich vergrößert, auch ohne dass Klein das sagt. Westerwelle will mit dieser Formulierung den ganzen Bericht als subjektiv und damit unglaubwürdig hinstellen, unabhängig davon, dass hier Fakten berichtet werden. Kleins Bericht aus Südafrika referiert Westerwelle mit größter Abneigung und Distanz; man merkt es hier und an anderer Stelle, dass Westerwelle die referierten Fakten nicht zur Kenntnis nehmen will oder kann, mit einem Wort, „faktenresistent“ ist. Schauen wir zum Thema Südafrika doch auch noch woanders nach als bei Klein: Das South African Institute for Race Relations kam in einer im Nov. 2007 veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass in Südafrika sich die Zahl der Armen von 1996 bis 2005 auf 4,2 Millionen Menschen verdoppelt hatte – dabei ist als „arm“ nur gerechnet, wer 1 Dollar Pro-Kopf-Einkommen pro Tag hat, ja wohl eine viel zu niedrig angesetzte Zahl. Und noch eine Zahl, diesmal von der Weltbank: 1990 gehörten in Afrika südlich der Sahara 47,7 % der Bevölkerung zu den „Ärmsten der Welt“, im Jahr 2030 werden es mehr als drei Viertel sein. Gleichzeitig wächst die Zahl der Dollar-Millionäre prozentual nirgendwo so stark wie in Afrika – 2006 etwa um 12,5 % (s. hierzu Wahl, Finanzmärkte, S. 33).

 

Von mehr als weit hergeholt ist Westerwelles Vorwurf, Kleins Deutung sei „ein Zeugnis von grenzenlosem Misstrauen gegen den einzelnen Menschen, der hier nur eine Rolle hat: die des ohnmächtigen Opfers“. Misstrauen gegen wen? Westerwelle meint offenbar gegenüber den „ohnmächtigen Opfern“. Das ist seltsam, denn von Misstrauen ihnen gegenüber ist in dem ganzen Buch nichts zu spüren, von Mitgefühl reichlich. Versuchen wir, es in die krude neoliberale Logik zu übersetzen: Klein sähe in diesen Menschen vor allem „ohnmächtige Opfer“, also Menschen, die in der schönen neuen neoliberalen Welt keine Chance mehr hätten und in ihr nicht mehr zum eigenen Vorteil agieren könnten, und das ist für Westerwelle gleicht „.misstraut“. Denn „Opfer“ darf es in der Schönen Neuen Neoliberalen Welt nicht geben, das hieße ja zuzugeben, dass es Menschen gibt, die in dieser Schönen Neuen Welt den Kürzeren gezogen haben (und dass dies noch dazu die Mehrheit ist). Nein, diese Ideologie erhebt den Anspruch, dass ihre Art „Freiheit“ für alle gut sein soll, auch wenn diese Ordnung immer mehr Menschen an den Rand drängt, marginalisiert, die Menschen für diese Ordnung überflüssig, ja störend sind.

 

Wieland Hempel: „Der Neoliberalismus will Freiheit – an erster Stelle die Freiheit des Marktes und der Marktteilnehmer, nicht die ‚freie Entfaltung der Persönlichkeit’ eines jeden Menschen, auch nicht die politische Freiheit des Bürgers. Neoliberale Freiheit als höchster Wert ist Selbstgenuss der Freien und Starken und nicht ein Instrument zur Förderung des Wohls der Allgemeinheit.“ Worin kann diese „Freiheit“ bei einer Slumbewohnerin irgendwo in der Dritten Welt angesichts der Verwerfungen durch die Strukturanpassungsprogramme des IWF für Herrn Westerwelle wohl bestehen? Von solcher neoliberalen Phrasendrescherei abgesehen, sieht Naomi Klein bei allem Mitgefühl die Betroffenen keineswegs auf die Rolle passiver Opfer beschränkt – genau das Gegenteil ist der Fall: sie zeigt am Beispiel der jüngsten Ereignisse in Lateinamerika und der Initiativen der Betroffenen in New Orleans, dass man sich durchaus wehren kann und selber etwas auf die Beine stellen kann, dass man aus der neoliberalen Abwärtsspirale aussteigen kann. Aber das ist natürlich bei Westerwelle nicht vorgesehen und nicht erwünscht, oder hier haben wir mal wieder einen Teil des Buches, den der „Rezensent“ überhaupt nicht gelesen hat.

 

Noch toller treibt es Westerwelle im nächsten Absatz. „Aus den Zeilen spricht Verlustangst“, heißt es da. Was für eine Verlustangst meint er? Subtil wird erst einmal die „Verlustangst“ erwähnt, die im Zusammenhang mit der Globalisierung bei uns in den entwickelten Ländern am häufigsten anzutreffen sei: die Angst vor dem Verlust der gewohnten Sicherheiten, der vertrauten sicheren Rolle des Westens angesichts des „Aufstiegs der einstigen Peripherie“. Nur geht es in diesem Buch darum in keiner Weise, und Westerwellesche Manier „durch den Rücken in die Brust und dann ins Auge“ ist die folgende Behauptung: „So, wie sich er Globus verändert, kommen den Naomi Kleins dieser Welt die Opfer abhanden. ‚Aber Ihr müsst Euch doch empören!’ ruft sie zwischen den Zeilen. Diese Verlustangst übersetzt sich in drastischen Wertungen.“ Also jetzt Angst bei „den Naomi Kleins dieser Welt“ bzw. den „unbehausten Intellektuellen, die sich für andere empören wollen“, davor, dass ihnen die Opfer ausgehen, über deren Schicksal sie sich empören könnten. (Und was soll hier „unbehaust“? Meint Herr Westerwelle, die „Naomi Kleins dieser Welt“ lebten auf der Straße? Was hat er gegen Intellektuelle? Mit dieser anachronistischen Formulierung wird geschickt an Feindbilder gegen „linke“ Intellektuelle angeknüpft, die schon mindestens hundert Jahre alt sind, nach dem Motto: besser ein Feindbild aus Kaiser Wilhelms Zeiten als gar keins).

 

Westerwelle behauptet hier nichts mehr und weniger als dass „die Naomi Kleins dieser Welt“ Opfer brauchen und „Verlustangst“ verspüren, wenn ihnen diese ausgehen. Also dass Naomi Klein um möglichst viele Opfer betet, damit sie sich „empören“ und dabei gut fühlen kann. Diese Behauptung ist pervers. Eben „plump wie Guido“.

 

Und es wäre ja nur zu schön, wenn tatsächlich auf dieser Welt die „ohnmächtigen Opfer“ ausgehen würden. Hätten Sie doch recht, Herr Westerwelle! Nur sieht die Welt doch leider ganz anders aus, als sie sich aus der Parteizentrale der FDP in Berlin darstellt. Die „Opfer“ werden leider keineswegs weniger, sondern eher mehr: vom Hungertod Bedrohte in Afrika; Kindersklaven auf den Kakaoplantagen in Westafrika; Millionen Aidskranke; 29 Millionen Kinder in China, die ohne ihre Eltern allein aufwachsen, weil diese sich als Wanderarbeiter verdingen müssen; indische Bauern, die zu Tausenden Selbstmord begehen, weil sie keinen Ausweg mehr wissen; Slumbewohner von Rio bis Manila; Rentenempfänger ohne Rente in Russland; ausgebeutete Arbeiterinnen in Chinas Wirtschaftssonderzonen, entwurzelte Kleinbauern in aller Welt usw. usw. Daß die Globalisierung, die Politik derer, die sie vorantreiben, die dahinter stehende Ideologie, das Verhalten der Konzerne als die Hauptnutznießer dieser Entwicklung eine großen Anteil an der Notlage aller dieser Menschen hat, ist Fakt.

 

Daß Klein die Linke in Lateinamerika lobt, ist aus Westerwelles Mund ein Vorwurf, von dem er genau weiß, wo er bei seinen Lesern landet und welche Assoziationen er weckt, angesichts einer auf leere Regale in Kuba, einen alterstarrsinnigen Fidel Castro und das Caudillo-Gehabe von Hugo Chavez verkürzte Wahrnehmung in unseren Medien. Und natürlich muß Westerwelle die Namen Castro und Chavez auch noch nennen. Daß die „Linke in Lateinamerika“ entschieden mehr ist, was sie für die bisher an den Rand Geschobenen etwa auch in Venezuela bedeuten kann, hat Klein beschrieben, Westerwelle hat es offenbar nicht zur Kenntnis genommen. Man kann Naomi Klein zu Recht vorwerfen, dass sie Hugo Chavez und seine Politik zu unkritisch sieht (auch seine Paladine wirtschaften vor allem in die eigene Tasche, und die Versorgungslage wird schlechter) – aber es geht hier doch um wesentlich mehr, was Westerwelle nicht sehen konnte oder nicht sehen wollte, weil es nicht in sein abgeschlossenes Weltbild passt.

 

Zum Schluß nutzt Westerwelle die „Rezension“ noch zur Direktwerbung für sein abgeschlossenes und simpel gestricktes Weltbild. „Die Globalisierung kann mehr Wohlstand bringen“. In der Tat, das kann sie nicht nur, das tut sie schon kräftig, nur: Wohlstand für wen? Und das ist überall dasselbe Bild: Riesiger Reichtum für eine hauchdünne Minderheit, Wohlstand für Wenige, ein besseres Auskommen für Einige, Abstieg und wachsende Armut für Viele. Westerwelle erklärt: „Die Globalisierung ist keine Ideologie, mag die neue Linke noch so oft über den ‚Globalismus’ schimpfen. Sie ist ein Faktum.“ Wie schön, dass sich hier noch ein Haken gegen eine „neue Linke“ anbringen ließ, nur: Naomi Klein hat nie behauptet, dass die Globalisierung eine Ideologie sei. Was freilich ebenso ein Faktum ist: Hinter der Globalisierung, so wie wir sie erleben, steckt eine Ideologie, eben das neoliberale Modell der Chicagoer Schule. Neoliberale geben sich gerne als „Pragmatiker“ und werfen ihren Kritikern Ideologie vor. Doch der Neoliberalismus ist selbst eine reine Ideologie mit einem hermetisch abgeschlossenen Gedankengebäude. Auch wenn Neoliberale das nicht gerne hören.

 

Für die neoliberalen Ideologen steht nicht die Ausgangslage im Mittelpunkt, sondern die Welt wird in das Raster der Ideologie gepresst: die „heilige Dreifaltigkeit“ des Neoliberalismus: Privatisierung, Deregulierung, Entstaatlichung, wird der Welt von Deutschland bis Niger, von Argentinien bis Russland verordnet. Westerwelle schreibt von der „Herausforderung“ der Globalisierung, ihrem „atemberaubenden Tempo“, dem „Risiko, den Anschluß zu verlieren“. Parolen, die wir zur Genüge kennen. Wir Deutsche müssten der Globalisierung „gerecht“ werden, wie, das ist für einen Westerwelle klar: noch mehr den Regeln des neoliberalen Dogmas folgen, noch mehr neoliberale „Dreifaltigkeit“.

 

„Der Globalisierung wohnt ein urdemokratischer Gedanke inne.“ So behauptet Westerwelle. Urdemokratisch? Wie verschiedene Länder für die Globalisierung „fit“ gemacht wurden, kann man bei Naomi Klein nachlesen. War der Putsch von Pinochet in Chile 1973 demokratisch? Das ist polemisch, ich weiß, heutzutage geht es auch ohne Putsch und ohne von Leichen gepflasterten Straßen. 1990 wurde Michail Gorbatschow von den westlichen Regierungen zu einem radikal neoliberalen Kurs gedrängt und ihm von neoliberalen Meinungsmachern noch geraten, als „starker Mann“ zu regieren, „den Widerstand zu zerschlagen, der eine ernsthafte Wirtschaftsreform blockiert“, was auch „möglicherweise Blutvergießen“ bedeuten könne, und überhaupt sei „Pinochets Chile ein pragmatisches Vorbild für die Sowjetwirtschaft“. Heutzutage reicht es auch, einer demokratisch gewählten (auch angeblich linken) Regierung die Garotte der Staatsschulden anzuziehen, um ihr die „heilige Dreifaltigkeit“ aufzudrücken.

 

Urdemokratisch? Der damalige Bundesbankpräsident Tietmeyer auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 1996 zu den versammelten Politikern: „Von nun an stehen Sie unter der Kontrolle der Finanzmärkte!“ Dazu Jean Ziegler: „Langanhaltender Beifall. Die Staatschefs, Ministerpräsidenten und Minister, unter ihnen viele Sozialisten, akzeptierten wie selbstverständlich die Fremdbestimmung der Volkssouveränität durch die spekulative Warenrationalität des globalisierten Finanzkapitals“ (Ziegler, Herrscher, S. 99). Die Finanzmärkte, sprich, das Finanzkapital, sprich, die hauchdünne Minderheit der Superreichen dieser Welt, kontrolliert die Regierungen, auch die demokratisch gewählten, die in einer Demokratie vom Volk als dem Souverän bzw. dessen gewählten Vertretern kontrolliert werden sollten und nicht von den „Finanzmärkten“. So aber hebelt Globalisierung die Demokratie aus. Naomi Klein zeigt das am Beispiel Südafrika. Mandela aus dem Gefängnis entlassen? Der südafrikanische Aktienmarkt stürzt ab, die Währung verliert 10 % ihres Wertes. Ein Politiker äußert sich dahin, die „Freiheitscharta“ von 1955, die eine Bodenreform und Verstaatlichungen vorsah, könnte vielleicht doch noch umgesetzt werden – die Währung stürzt ab. Mandela äußert sich bei einem privaten Mittagessen mit Geschäftsleuten positiv zur Verstaatlichung – die Währung stürzt ab. Dazu Nelson Mandela 1997: „Die schiere Mobilität des Kapitals und die Globalisierung der Kapital- und anderer Märkte machen es Ländern unmöglich, beispielsweise ihre interne Wirtschaftspolitik zu bestimmen, ohne auf die mögliche Reaktion dieser Märkte Rücksicht zu nehmen.“

 

Urdemokratisch? Die Wirtschaftspolitik und damit auch viele andere Bereiche der Politik bestimmen nicht mehr die demokratisch gewählten Regierungen, sondern „die Märkte“. „Die Märkte“ oder „der Markt“, das ist ja kein Abstraktum – neoliberale Theoretiker lieben den Vergleich mit Naturgewalten, die unpersönlich sind und gegen die sich aufzulehnen nutzlos und lächerlich wäre – sondern Menschen, eben diejenigen, die genug Kapital besitzen und verschieben, dass sie damit Aktienmärkte und Währungen auf und nieder treiben und damit auch Regierungen vor sich her treiben können. Und diese dünne Schicht der Superreichen handelt natürlich entsprechend ihren eigenen privaten Interessen. Urdemokratisch? Die Regierungen müssen sich nach den Interessen der Superreichen richten. Jean Ziegler nennt daher die Globalisierung die „Refeudalisierung der Welt“.

 

Westerwelles Begründung, warum der Globalisierung ein „urdemokratischer Gedanke innewohnt“: „Denn sie schafft einheitlichen Wettbewerb“. Aber: zwischen wem? Zwischen Konzernen wie Nestlé oder Monsanto auf der einen und den Kleinbauern in Ruanda auf der anderen Seite? Wer macht hier wen platt, wenn diese als Konkurrenten auf dem Markt gegeneinander antreten? Die Vorstellung ist absurd? Nein, sie ist Realität, hatte doch der IWF von Ruanda die Öffnung des einheimischen Marktes für billige US-amerikanische und europäische Getreideüberschüsse verlangt, angeblich mit dem Ziel, die ruandischen Bauern zu größerer „Wettbewerbsfähigkeit“ zu ermuntern. Absurd? Wie „demokratisch“ ist es, Riesen und Zwerge unter „gleichen Wettbewerbsbedingungen“ in den Boxring zu schicken? Hier äußert Westerwelle ein sehr seltsames Demokratieverständnis.

 

Westerwelle fährt fort: „Die globalisierte Welt kann, beispielsweise durch freien und fairen Handel, mehr Weltbürgern als jemals zuvor Wohlstand bringen.“ Mit „freiem“ und „fairem“ Handel verbindet Westerwelle zwei Arten von Handel, die nichts miteinander zu tun haben, die sich untereinander ausschließen. „Freier Handel“ folgt den Regeln des Marktes – der Markt bestimmt die Bedingungen und den Preis, der Stärkere setzt seine Interessen zuungunsten des Schwächeren durch. Beim „fairen Handel“ sind ganz andere Kriterien bestimmend. Hier verzichtet die stärkere Seite bewusst darauf, die Marktkräfte zu ihren eigenen Gunsten zu nutzen, und garantiert dem Anbieter einen festen Preis, der sich daran orientiert, dass dieser von dem Erlös leben kann. Es gibt einen solchen „fairen“ Handel, etwa jetzt im Rahmen des von Westerwelle so verteufelten „linken“ Lateinamerika (das kann man bei Naomi Klein nachlesen), oder in einem Nischensegment des Bio- und Dritte (jetzt „Eine“) Welt-Handels mit Lebensmitteln zu fairen Preisen. Der „freie“ Handel lebt nach dem Prinzip der Gewinnmaximierung, wenn es der Markt hergibt, soweit, daß etwa in Westafrika Kindersklaven als die billigsten Arbeitskräfte auf den Kakaoplantagen schuften müssen, die vorher von ihren an der Armut verzweifelnden Eltern verkauft oder gar von Sklavenjägern eingefangen wurden… usw. Wenn Westerwelle hier den „fairen“ Handel mit dem „freien“ Handel in einem Atemzug nennt und für die neoliberale Globalisierung vereinnahmt, handelt er schlichtweg dreist. „Fairer“ Handel ist per se anti-neoliberal.

 

„Wohlstand für mehr Weltbürger als jemals zuvor“ ?? Das ist nicht mehr als ein für die Zukunft gegebenes, rein ideologisch fundiertes, man muß fast schon sagen religiöses Heilsversprechen, das für die Gegenwart nicht eingelöst worden ist. Das Heilsversprechen einer Ideologie, die in der Vergangenheit versagt hat und eine goldene Zukunft verspricht, die aber immer Zukunft bleiben und nie Realität werden wird. Das hat der Neoliberalismus mit der kommunistischen Lehre sowjetischer Prägung gemein: beide sind geschlossene Gedankengebäude, die sich absolut setzen und keinen Widerspruch dulden. Beide Lehren gehen davon aus, dass ihre Idealwelten die höchste Stufe der menschlichen Geschichte und Entwicklung bedeuten; das „Ende der Geschichte“ wollte der neoliberale Vordenker Fukuyama nach dem Ende des Sowjetsystems ausmachen. Für Karl Marx wie für Lenin war nach der Theorie der Stadien in der Geschichte der Kommunismus das Endstadium der Geschichte.

 

Vergleichen wir einmal die ideologischen Prämissen nur für die Wirtschaft. Sowjetsystem: Privates Unternehmertum jeder Art ist des Teufels, die reine Lehre fordert, dass die Wirtschaft vollständig in staatlicher Hand liegt, bis hin zu Taxis, Klempnern und Nähfadenherstellung. Das wurde konsequent durchgezogen. Die Folge waren eklatante Versorgungsmängel, die nicht hätten sein müssen, hätte man mehr private Initiative zugelassen. Aber das hätte der reinen Lehre widersprochen. Neoliberalismus: Alle wirtschaftlichen Tätigkeiten des Staates (wobei nun auch die Grundversorgung und hoheitliche Aufgaben hierzu gerechnet werden) sind des Teufels. Die reine Lehre fordert, dass alles in privater Hand liegen muß, bis hin zu Schulwesen, Gefängnissen und Katastrophenhilfe. Grundsätzlich können Private alles besser. Dieses System hat jedoch versagt, es produziert Ungleichheit, Reich und Arm, führt zum Verfall der Infrastruktur, zur Verschleuderung von Allgemeinvermögen, dazu, daß Profitmaximierung als einziger gesellschaftlicher Wert übrigbleibt, und schließlich zum völligen Zerfall der Gesellschaft.

 

Ein schönes Gegenbeispiel ist der Erfolg der Staatswirtschaft in Schweden mit 4 Milliarden Euro Gewinn im Jahr 2006. Gunnar Herrmann in der SZ vom 7.1.2008: „Wer argumentiert, es sei nicht Aufgabe des Staates, sich als Unternehmer zu betätigen, weil die Privatwirtschaft das besser kann, gerät in Erklärungsnot. Warum eigentlich sollen der Finanzminister und mit ihm alle Bürger nicht am Wirtschaftsleben mitverdienen, fragen sich viele. Noch dazu, wo Schwedens öffentliche Hand offenbar ein Geschick für das Lenken von Firmen hat.“

 

Westerwelle fährt fort, neoliberale Schlagworte und ideologische Dogmen ohne Substanz aneinanderzureihen. „Der größte Fehler wäre, auf Abschottung zu setzen.“ Klar, dass ein Neoliberaler hier mit „Abschottung“ einen eher negativen Begriff für etwas wählt, was man auch „Schutz der eigenen Wirtschaft“ hätte nennen können. Aber: die Aussage von Westerwelle ist völlig pauschal, eben dogmatisch. Man muß von Situation zu Situation immer wieder fragen: Ein Fehler für wen, unter welchen Umständen? Der Pragmatiker würde das von Fall zu Fall entscheiden, der neoliberale Ideologe nach seiner Lehre. Wie war das noch einmal mit dem billigen Getreide aus Europa und den USA und den Bauern in Ruanda?

 

Um diejenigen, die keine zügellose Globalisierung wollen, zu beruhigen, hebt Westerwelle die Welthandelsorganisation (WTO) als „Ordnungsrahmen“ hervor. Hier will Westerwelle uns den Gärtner zeigen, aber es ist nur ein Bock zu sehen. Über die WTO gäbe es viel zu sagen, andere haben es getan. In der WTO dominieren die reichen Länder, bestimmen allein die Interessen der großen internationalen Konzerne. Die WTO hat es abgelehnt, in ihre Regeln eine Sozialcharta aufzunehmen – Ausbeutung, Hungerlöhne, Kindersklaven bleiben erlaubt. Sie hat es abgelehnt, eine Umweltcharta aufzunehmen – bei der Produktion in Entwicklungsländern darf die Umwelt weiter beliebig verseucht werden. Die WTO ermöglicht es Konzernen, gegen Länder vorzugehen, die deren Gewinne schmälern, jüngstes Beispiel: die EU möchte aus Gründen der Gesundheit den Anbau von gentechnisch verändertem Mais erschweren, aber „gleichzeitig drohen die USA, Kanada und Australien der EU wegen der Schutzklauseln milliardenschwere Strafzölle an und haben dafür die Rückendeckung der Welthandelsorganisation WTO“ (Cornelia Bolesch, SZ vom 15.1.2008). Und die EU ist noch gut dran, sie ist stark, welche Position hätte wohl ein Land wie etwa Ruanda? Der Gewinn der Konzerne durch einen „freien Handel“ ist für die WTO ein wichtigeres Gut als ein halbwegs menschenwürdiges Leben für die Menschen in der Dritten Welt, als die Umwelt, als unsere Gesundheit. Der Ökonom Michel Chossudovsky (Global Brutal, S. 50): „Wer die WTO als legitime Organisation ansieht, plädiert praktisch dafür, die Menschenrechtserklärung der UNO auf unbestimmte Zeit auszusetzen bzw. aufzuheben.“

 

Im Weiteren kommt Westerwelle nun auf einen „ideellen Aspekt“: „Die Globalisierung ist die Chance, auch westlich-demokratische Werte und Haltungen in die ganze Welt zu tragen.“ Was versteht ein Westerwelle unter „demokratischen Werten“? Daß die unter neoliberalem Vorzeichen stehende Globalisierung nur auf undemokratischer Grundlage funktionieren kann, weiß jeder, der die Fakten in Naomi Kleins Buch gelesen hat, auch wenn es dazu mittlerweile keine Pinochets mehr braucht. Wie sollten Gentechnik, Kindersklaverei, Lohnabbau bei gleichzeitiger Gewinnsteigerung, Ölteppiche im Flussdelta unter demokratischen Bedingungen irgendwo auf der Welt irgendeine Chance haben?

 

Eine weitere dogmatische und mit verunklarenden Begriffen operierende, in bestimmten Kreisen sehr beliebte Behauptung darf bei Westerwelle auch nicht fehlen: „Soziale Marktwirtschaft und Freiheit gehören zusammen.“ Das mag sich ja gut anhören, mehr aber auch nicht, denn 1. Was versteht ein Neoliberaler unter dem Begriff „Soziale Marktwirtschaft“? „Soziale“ und „freie“ Marktwirtschaft schließen sich aus. Eine „soziale“ Marktwirtschaft lässt den Markt sich entwickeln, aber sie beschränkt die Kräfte des freien Marktes durch ein klares Reglement, das den Interessen der Gesellschaft als Gesamtheit wie aller Gruppen der Gesellschaft gerecht werden soll. Garant ist ein mit entsprechenden Befugnissen ausgestatteter Staat, der bestimmte Bereiche der elementaren Grundversorgung und Infrastruktur selbst übernommen hat und so die Grundversorgung unabhängig vom Marktgeschehen garantiert. Regulierung des Marktes und ein starker Staat sind für Anhänger einer „freien“ Marktwirtschaft Teufelszeug und gehören beseitigt.

 

2.) Was ist „Freiheit“? Was uns die Globalisierung gebracht hat, ist die völlige Freiheit für das große Kapital – es kann völlig frei von einem Land in das andere fließen, heute hier, morgen dort investiert werden, in Steueroasen gewaschen werden und sich jeder gesellschaftlichen Verantwortung entziehen, Regierungen eine ganz bestimmte Politik aufzwingen. Aber, wie frei ist eine chinesische Arbeiterin, die in der Computerindustrie für den Export arbeitet und 30 Euro-Cent in der Stunde verdient? Ein Kindersklave auf einer Kakaoplantage in Westafrika? Die Ogoni im Nigerdelta, denen Shell mit seinen Ölanlagen die Umwelt und die gesamten Lebensgrundlagen verseucht? Was heißt „Freiheit“ vor dem Grenzzaun zwischen Mexiko und den USA, an der Außengrenze der EU? Dass „Freiheit“ mehr ist, wusste man schon vor über 200 Jahren. Der französische Revolutionär Jacques Roux (1752–1794): „Die Freiheit ist ein eitles Hirngespinst, wenn eine Klasse von Menschen die andere ungestraft aushungern kann.“ Dazu Jean Ziegler (Imperium, S. 23): „Was nützt einem Analphabeten die Verkündigung der Pressefreiheit? Ein Wahlzettel macht den Hungrigen nicht satt. Wer seine Familie an Krankheit oder Elend verenden sieht, wird sich wohl kaum über Gedankenfreiheit und Versammlungsfreiheit Sorgen machen. Ohne soziale Gerechtigkeit ist die Republik wertlos.“ Westerwelle gebraucht den Begriff Freiheit gerade so, wie er ihm in sein politisches Kalkül passt, als gäbe es Freiheit dann, wenn das Kapital frei ist.

 

Und weiter fährt Westerwelle fort: „Naomi Klein dagegen versteht Freiheit als etwas, das nur gegeben sei, wenn die Marktwirtschaft durch etwas anderes ersetzt werde.“ Nur: Naomi Klein sagt nirgendwo, dass sie die „Marktwirtschaft“ durch etwas anderes ersetzen will. Ein typischer Propagandatrick der Neoliberalen ist es, so zu tun, als gäbe es außer ihrer „freien“ Marktwirtschaft nichts anderes mehr – von dem in jeder Hinsicht gescheiterten Staatssozialismus sowjetischer Prägung abgesehen. So kann man dann ganz bequem jeden, der etwas anderes will als die „freie“ Marktwirtschaft neoliberalen Musters, beschuldigen, das Sowjetsystem zurückhaben zu wollen. Um einschätzen zu können, was Naomi Klein denn will, ist es hilfreich, sich die Kritik an ihrem Buch aus dem linken Spektrum anzusehen. Da wird ihr vorgeworfen, dass sie bei aller Kritik den „Kapitalismus“ nicht abschaffen wolle. Und in der Tat macht Naomi Klein immer wieder deutlich, was ihr vorschwebt: Sie nennt es auf S. 635 eine „Kombination von Demokratie und Sozialismus“, dann „dritter Weg“ – m. E. beides in jeder Hinsicht unpräzise Bezeichnungen – wird dann aber klar genug: „kein Staatskommunismus, sondern Marktwirtschaft in Koexistenz mit verstaatlichten Banken und Bergwerken und einem Staat, der mit diesen Einnahmen lebenswerte Wohnquartiere und anständige Schulen baut: Demokratie auf wirtschaftlicher wie auf politischer Ebene.“ Man muß es nicht für notwendig halten, dass Banken und Bergwerke verstaatlicht werden – aber man sollte doch zur Kenntnis nehmen, dass es neben der „freien“ Marktwirtschaft eben noch eine andere gibt, eine „soziale“.

 

Der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“, den die Neoliberalen in Deutschland offensichtlich okkupiert haben, um ihn irreführend einfach mit der „freien Marktwirtschaft“ gleichzusetzen, existiert so in den angelsächsischen Ländern nicht. Naomi Klein spricht daher auch immer wieder vom „Keynesianismus“, wenn sie im Prinzip eine solche „soziale“ Marktwirtschaft meint. Dass genau dem ihre Sympathie gehört, scheint aus ihrem Buch immer wieder heraus. Franklin D. Roosevelts „New Deal“ – welche Motive Naomi Klein auch immer dahinter vermutet – gilt ihr als ein positives Beispiel einer „sozialen“ Marktwirtschaft. Westerwelle blendet das, weil unbequem für ihn, aus. Hier würde eine Alternative aufscheinen, die dem Neoliberalismus wirklich gefährlich werden könnte, anders als der gescheiterte und unmenschliche sowjetische Staatssozialismus, der immer noch als Totschlagargument herhalten muß, wenn jemand nach Alternativen zur neoliberalen „freien“ Marktwirtschaft verlangt.

 

Eine seltsame Logik beweist Westerwelle auch mit der Behauptung, „Naomi Klein fällt leider weit hinter den Erkenntnisstand der chinesischen Kommunisten zurück“, angesichts der Aussage des chinesischen Ministerpräsidenten, dass „der weitere wirtschaftliche Aufbau ohne demokratische politische Reformen undenkbar sei“. Meint Westerwelle hier, Naomi Klein sträube sich im Gegensatz zu den chinesischen Kommunisten gegen „demokratische politische Reformen“? Das kann man aus dem Buch nun wirklich nicht herauslesen, wo sie ständig gerade mehr Demokratie auch im wirtschaftlichen Bereich fordert. Wenn Westerwelle sich hier politisch näher an den chinesischen Kommunisten als an Naomi Klein verortet, ist das seine Sache (es spricht sicher nicht für ihn), aber hätte er sich bei aller echten (oder vorgetäuschten) Naivität hier nicht fragen müssen, wie ernst es die chinesischen Machthaber mit „demokratischen politischen Reformen“ denn wirklich meinen? Lassen wir ihm den chinesischen Konzeptkünstler Ai Wei Wei in seinem Blog antworten: „Der neue Reichtum des Landes ist schockierend, niemand aber wagt es, nach den Neureichen zu fragen. Ihr Reichtum wurde nicht erarbeitet, er entstand durch Schattengeschäfte und die merkwürdige Staatsdoktrin, dass eben ‚manche zuerst’ reich werden müssten. Jetzt sind die Armen noch ärmer geworden. Aber niemand interessiert sich dafür, wie Armut sich derartig ausbreiten kann. Die Preise steigen wie verrückt. Luft und Flüsse werden immer schmutziger. Grund und Boden werden einem unter den Füssen weggezogen. […] In den letzten dreißig Jahren hat es keine wirklichen politischen Reformen gegeben – und keine freien Wahlen, keine Rede- und Pressefreiheit.“ (SZ vom 11.1.2008, Keine Welt ohne Traum).

 

Quasi als „Kronzeugen“ für die neoliberale Globalisierung führt Westerwelle die „mehreren Hundert Millionen“ Menschen auf, denen „vor allem in Asien“ die Globalisierung „neuen Wohlstand beschert“ habe. Das hat sie zwar, aber was ist mit den anderen? In China sind die Not und die brutale Unterdrückung der Landbevölkerung eklatant (man lese hierzu das erschütternde Buch von Wu Chuntao und Chen Guidi). 150 Millionen Chinesen verdingen sich ohne festen Wohnsitz als Wanderarbeiter, 29 Millionen Kinder wachsen deshalb ohne Eltern, oft völlig allein auf sich gestellt, auf (SZ vom 27.12.2007, „Das Leben, eine Baustelle“). Für Indien wird die Zahl derjenigen, die von der Globalisierung profitieren, je nach Auffassung mit 50 bis 300 Millionen angegeben, das wäre ein Mittelwert von 175 Millionen – bei einer Gesamtbevölkerung von über 1000 Millionen nur ein kleiner Teil. Und was ist mit den anderen? Die Vernachlässigung des ländlichen Raumes und seiner Bevölkerung wird für Indien wie für China allgemein konstatiert. Die katastrophalen Prognosen für Afrika wurden schon erwähnt.

 

Jean Ziegler (Herrscher, S. 59) beginnt seine Kritik an der Behauptung, dass die Globalisierung allen nutze, mit einem Vergleich: „In Wirklichkeit häufen die Gebieter des Finanzkapitals persönliches Vermögen in einer Größenordnung an, wie es vor ihnen kein Papst, kein Kaiser und kein König je geschafft hat. So kommt es, dass die 225 größten Privatvermögen der Welt sich zusammen auf 1000 Milliarden Dollar belaufen. Diese Summe entspricht den gesamten Jahreseinkünften der 2,5 Milliarden ärmsten Menschen des Planeten, das sind rund 40 Prozent der Weltbevölkerung. […].“

 

Ist der Neoliberalismus bzw. die neoliberale Variante der Globalisierung alternativlos, wie man uns weismachen will? Pierre Bordieu: „Der Neoliberalismus ist eine Eroberungswaffe. Er predigt einen wirtschaftlichen Fatalismus, gegen den jeder Widerstand zwecklos erscheint. Der Neoliberalismus ist wie Aids: er zerstört das Immunsystem seiner Opfer.  […] Hinter dem Fatalismus der ökonomischen Gesetze verbirgt sich in Wirklichkeit eine Politik, allerdings eine paradoxe; denn es geht um eine Politik der Entpolitisierung, die darauf abzielt, den ökonomischen Kräften durch Befreiung von jeder Kontrolle und Beschränkung schicksalhaften Einfluß zu verschaffen und gleichzeitig Regierungen und Bürger zur Unterwerfung unter die solcherart befreiten wirtschaftlichen und sozialen Kräfte zu bringen.“ (Pierre Bordieu in „Der Spiegel 28, 2001, und in: Contre-feux, Bd. 2, Paris 2001). Jean Ziegler (Herrscher, S. 53 f.): „Die Ideologie der Gebieter [der Neoliberalismus] ist umso gefährlicher, als sie einen rigorosen Rationalismus für sich in Anspruch nimmt. Sie arbeitet mit einem Taschenspielertrick, der glauben machen will, dass zwischen wissenschaftlicher Objektivität und der Objektivität der ‚Marktgesetze’ eine Äquivalenz besteht. ‚Der Obskurantismus ist wieder auf dem Vormarsch’, konstatiert Bordieu. ‚Aber diesmal haben wir es mit Leuten zu tun, die sich durch ‚Vernunft’ empfehlen’. Zu dieser Pseudorationalität kommt eine weitere Gefahr: Indem sich die Diktatur des Kapitals hinter blinden und anonymen ‚Gesetzen’ des Marktes’ verschanzt, zwingt sie uns die Vorstellung von einer geschlossenen und unveränderlichen Welt auf. Sie verwirft jede menschliche Initiative, jedes geschichtliche Handeln, das aus der subversiven Tradition des noch nicht Bestehenden, noch nicht Erreichten, mit einem Wort: der Utopie, hervorgeht. Sie sperrt die Zukunft aus.“ Und genau das brauchen, ja das dürfen wir uns nicht gefallen lassen.

 

Die Menschheit hat für die Zukunft etwas Besseres verdient als eine Ideologie, die die Reichen reicher und die Armen ärmer macht. Caspar Dohmen in der SZ vom 22./23.12.2007 („Fairness zahlt sich aus“) bringt es auf den Punkt: „Wirtschaft ist ein Mittel zum Zweck. Welche Ziele erreicht werden sollen, ist keine Entscheidung der Wirtschaft, sondern der Gesellschaft. Deshalb ist es wichtig, dass die Politik nicht zu einer nachgeordneten Größe im System der Wirtschaft degeneriert, sondern ein kraftvolles Korrektiv der Wirtschaft bleibt. In einer Demokratie müssen die gewählten Volksvertreter der Wirtschaft den Ordnungsrahmen vorgeben. Die Spielregeln der globalisierten Wirtschaft fallen nicht vom Himmel, sondern werden von Regierungen gemacht. Sie können dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft faireres Handeln ermöglichen …“ Was wird das denn für eine Gesellschaft sein, für die sich bei uns wie weltweit eine breite Mehrheit finden würde? Eine neoliberale ist es sicher nicht. Naomi Klein (S. 635, 636): „Das schmutzige Geheimnis der neoliberalen Ära ist, dass diese Vorstellungen nie bei einer großen geistigen Auseinandersetzung oder demokratischen Wahlen verworfen wurden. […] Gerade weil der Traum von wirtschaftlicher Gleichheit so populär und im schweren Wettstreit so schwer zu besiegen ist, kam die Schockdoktrin [undemokratische Praktiken im weitesten Sinne bei der Durchsetzung der neoliberalen Ordnung] überhaupt zum Einsatz.“

 

Peter Wahl schaut über Deutschland hinaus auf die Entwicklungsländer. Für ihn „dominiert heute die Logik der Finanzmärkte. Der Shareholder Value, die ausschließliche Orientierung an der maximalen Rendite, ist zum Maß aller Dinge geworden. Entwicklung folgt aber einer anderen Rationalität als jener der größtmöglichen Rendite. Für die Überwindung von Armut und Elend ist demokratische, politische Gestaltung entscheidend. Der Markt kann dazu einen Beitrag leisten, wenn er politisch eingehegt und eingebunden ist. Die Finanzmärkte müssen daher so reguliert werden, dass sie in den Dienst von Entwicklung gestellt werden können.“ (Wahl, Finanzmärkte, S. 38)

 

Über die Suche nach einer besseren Zukunft in Lateinamerika berichtet Alexander Busche am 14.1.2008 in „Das Parlament“. Sein Artikel ist überschrieben: „Der dritte Weg. Ökonomische Modelle. Sozialismus oder Marktwirtschaft? Beides überzeugt nicht. Gesucht wird ein soziales Mischsystem.“. Zu der aktuellen Umfrage von Latinobarometro schreibt er, diese „zeigt deutlich, dass die Wähler [in Lateinamerika] auf der Suche nach einem neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell sind: Irgendwo zwischen den beiden Extremen ‚Sozialismus des 21. Jahrhunderts’ und ‚Washington consensus’ könnte es angesiedelt sein. Mehrheitsfähig könnte ein Modell werden, das Elemente aus beiden Lagern kombiniert - eine Variante der Sozialen Marktwirtschaft. Die Umfrage zeigt, dass sich die meisten Menschen in der Region nach einem stärkeren Staat sehnen, der für Chancengleichheit und gerechtere Einkommensverteilung sorgt.“ Gälte das nur für die Wähler in Lateinamerika? Wäre bei uns oder etwa in Indien das Umfrageergebnis anders ausgefallen? Das ist zu bezweifeln. Bemerkenswert ist, dass Alexander Busche sonst ausgerechnet für das „Handelsblatt“ und die „Wirtschaftswoche“ schreibt, wirtschaftsfreundlichere Blätter gibt es ja wohl kaum.

 

Die kritischen Stimmen mehren sich wieder. Man lese den Kommentar zur Hessenwahl von Holger Schmale in der „Berliner Zeitung“ vom 28. Januar 2008: „Die soziale Frage brennt den Menschen auf den Nägeln, sie gehört auf die Tagesordnung. Die letzten Hüter der neoliberalen Verirrungen der vergangenen Jahre heben schon großes Wehklagen an: Jetzt gehe es wieder in Richtung Verteilung, Versorgung, Verstaatlichung. Ja, hoffentlich! Denn ihr Götze, der Markt, hat gerade jetzt an den Börsen gezeigt, dass er außer Rand und Band, aber gewiss kein verlässlicher Ordnungsfaktor ist.“ Dazu wäre noch kritisch anzumerken, dass in der globalisierten Welt von heute die „soziale Frage“ nicht nur für ein Land gestellt und gelöst werden muss, sondern weltweit.

 

Auch im Kreis der „neuen Herren der Welt“ wächst die Nachdenklichkeit, werden kritische Stimmen langsam lauter. George Soros, als Spekulant groß und extrem reich geworden, redet heute vom Ende einer Ära, der Ära des Dollar, und vom Ende des „Washington Consensus“, der Lehre von den unregulierten Märkte. Von ihm vernimmt man jetzt Dinge wie „Der Markt-Fundamentalismus der letzten Jahre war ein großer Fehler“, und er fordert: „Wir brauchen ein neues Paradigma“ (Ulrich Schäfer in der SZ/Report am 26./27.01.2008). Solche Erkenntnisse gehen unserem deutschen Oberliberalen leider immer noch ab.

 

Was bezweckt dieser überhaupt mit einem derart unsachlichen und ideologisch verbohrten Ausfall unter der falschen Flagge einer „Rezension“? Zwar stellte der Kommentator „fa“ in der SZ vom 7.1.2008 („Der illiberale General“) fest, dass Westerwelle „gerne gegen alles geifert, was nicht so neoliberal ist wie er selbst“, was ja auch durch diese „Rezension“ bestätigt wird, aber das allein reicht als Erklärung nicht aus. Diese „Rezension“ wird erst verständlich als Teil eines von Westerwelle aufgezogenen „Lagerwahlkampfs“, sie soll polarisieren, die eigene Anhängerschaft ansprechen und motivieren. An diese ist die „Rezension“ gerichtet – dieses Publikum liest die „Welt“ – insoweit kann man dann als Autor faktenresistent genug sein und bei einem wohlbekannten Publikum mit allem als „Wahrheit“ durchkommen, was in dessen Vorstellungswelt passt und von diesem deshalb auch nicht hinterfragt wird. Wer von denjenigen, die in der „Welt“ Westerwelles Erguß gelesen haben, hat wohl vorher Naomi Kleins Buch gelesen?

 

Anders als vom Dauerwahlkampf motiviert sind die Erwähnungen von Oskar Lafontaine in der „Rezension“ nicht zu verstehen – in bester Westerwelle’scher Manier ganz unabhängig davon, dass Naomi Klein mit Oskar Lafontaine nichts zu tun hat und weder sie für ihn verantwortlich ist und umgekehrt. Aber mit Gewalt muß eben auch dieses Buch einer kanadischen Autorin – und damit die ganze internationale Entwicklung, die es schildert – in das deutsche Parteienschema bzw. das Schema eines Westerwelleschen Lagerwahlkampfs hereingepresst werden. So abstrus und anachronistisch ein Lagerwahlkampf in unserer heutigen Zeit auch sein mag, Westerwelle scheint sich doch etwas davon zu versprechen, wenn er unter der angestaubten Idee „Freiheit statt Sozialismus“ die alten Schlachten der 60er, 70er und 80er Jahre noch einmal schlägt. Westerwelle schlägt Oskar Lafontaine und die „Linke“ – nur wenn diese unter 5 % bleibt, hat die FDP eine Chance auf eine Regierungsbeteiligung in einer schwarz-gelben Koalition. So jetzt in Hessen, wie wohl demnächst in Hamburg und dann auch im Bund. Das alles hat mit Naomi Kleins Buch und ihrer Schilderung der Globalisierung rein gar nichts zu tun.

 

Wir haben alle etwas Besseres verdient als eine Globalisierung nach neoliberalem Muster und einen „Plump wie Guido“-Lagerwahlkampf. Darum diese Kritik.

 

Alois Glück, der Leiter der CSU-Grundsatzkommission: „Die Zeit der politischen Kriege ist vorbei, das zieht nicht mehr. Die Alternative Freiheit oder Sozialismus, das ist vorbei.“ (SZ, 1.2.2008)

 

WEITERE LEKTÜRE ZUM THEMA

 

Horst Afheldt, Wirtschaft, die arm macht. Vom Sozialstaat zur gespaltenen Gesellschaft, München 2003 (Verlag Kunstmann)

 

Christoph Butterwegge u. a., Kritik des Neoliberalismus, Wiesbaden 2007 (VS-Verlag)

Michel Chossudovsky, Global Brutal. Der entfesselte Welthandel, die Armut, der Krieg, Frankfurt / Main, 1. Auflage 2002, weitere Auflagen (Verlag (Zweitausendeins)

 

Wu Chuntao und Chen Guidi, Untersuchung zur Lage der chinesischen Bauern, Frankfurt 2006 (Verlag Zweitausendeins)

 

Ulrich Duchrow u. a., Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, Hamburg 2006 (VSA-Verlag)

 

John Gray, Die falsche Verheißung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen,  Berlin 1999 (Alexander Fest-Verlag)

 

Wieland Hempel, Die schleichende Revolution. Mit neoliberalen Reformen in eine andere Republik?, im Internet

 

Rüdiger Liedtke, Wir privatisieren uns zu Tode. Wie uns der Staat an die Wirtschaft verkauft, Frankfurt 2007 (Eichborn-Verlag)

 

Alfred McCoy, Foltern und foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und –praxis von CIA und US-Militär, Frankfurt 2005 (Verlag Zweitausendeins).

 

Albrecht Müller, Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungsschicht uns zugrunde richtet, München 2006 (Verlag Droemer)

 

John Pilger, Verdeckte Ziele. Über den modernen Imperialismus, Frankfurt 2004 (Verlag Zweitausendeins)

 

Heribert Prantl, Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit, München 2005 (Verlag Droemer)

 

Jeremy Scahill, Blackwater. Der Aufstieg der mächtigsten Privatarmee der Welt, München 2008 (Verlag Kunstmann)

 

Peter Warren Singer, Die Kriegs-AGs. Über den Aufstieg der privaten Militärfirmen, Frankfurt am Main 2006 (Verlag Zweitausendeins)

 

Joseph E. Stiglitz, Die Schatten der Globalisierung, München 2002 (Siedler Verlag)

 

Joseph E. Stiglitz, Die Chancen der Globalisierung, München 2006 (Siedler Verlag)

 

Peter Wahl, Finanzmärkte als Entwicklungshemmnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte7/2008, S. 33–38

 

Jean Ziegler, Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher, München 2003 (Verlag C. Bertelsmann)

 

Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München 2005 (Verlag C. Bertelsmann)

 

D. Klose