Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 46, 2014 (5.11.2014):
http://www.bpb.de/apuz/194429/das-haus-saud-und-die-wahhabiyya
Historisch
gewachsene Symbiose: Das Haus Saud und die Wahhabiyya
von Henner Fürtig
Zum Autor:
Henner Fürtig, Dr. phil.
habil., geb. 1953; Professor für Nahoststudien am Historischen Seminar der
Universität Hamburg; Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien, Neuer
Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg.
henner.fuertig@giga-hamburg.de
Als es der Familie Saud unter ihrem Oberhaupt
Abd al-Aziz, genannt Ibn Saud, 1932 zum dritten Mal seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts gelang, auf der Arabischen Halbinsel einen Zentralstaat unter
ihrer Führung zu errichten, fußte auch diese Gründung auf einem nahezu
symbiotischen Verhältnis mit der Geistlichkeit. Die Allianz geht auf das Jahr
1744 zurück, als der Dynastiegründer Muhammad Ibn Saud dem zur konservativen
hanbalitischen Rechtsschule des Islam zählenden Reformer Muhammad Ibn Abd
al-Wahhab zusicherte, dessen radikale, nur dem Text von Koran und
Prophetentradition (Sunna) verhaftete Religionsauslegung nicht nur als die
allein gültige anzunehmen, sondern sie auch zu schützen und zu verbreiten.
Auf diese Weise wurde der nach seinem Begründer benannte Wahhabismus faktisch
Staatsreligion in Saudi-Arabien. Im Gegenzug versprach Abd al-Wahhab – auch
für seine Nachkommen, die Al asch-Scheich – die Herrschaft der Al Saud als
die einzig rechtmäßige zu proklamieren.
Lektionen aus den ersten beiden
Staatsbildungsversuchen
Die unmittelbaren Folgen des Aufeinandertreffens von Muhammad Ibn Saud und
Muhammad Ibn Abd al-Wahhab waren für beide durchaus verheißungsvoll. Die
strenge, asketische, buchstabengetreue Koranauslegung Abd al-Wahhabs
verlangte der im Najd, dem Kernherrschaftsgebiet der Al Saud, unter
archaischen Bedingungen lebenden, genügsamen Bevölkerung nichts Unzumutbares
ab. Zugleich war dem ehrgeizigen Oberhaupt der Al Saud mit der neuen Lehre
ein Instrument an die Hand gegeben worden, mit dem das Gewohnheitsrecht der
Stämme, das Zwist und Zersplitterung begünstigt hatte, durch ein
einheitliches und zudem aus dem Islam abgeleitetes Recht ersetzt werden konnte.
Die Anhängerschaft beider schwoll an, jeder Erfolg konnte als "Zeichen
Gottes" gedeutet werden, die Stammeskrieger unter Sauds Kommando
reklamierten "gottgefälliges" Tun für sich. Die Sprengkraft dieser
Liaison war so gewaltig, dass die Nachfolger der beiden Begründer der Allianz
bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast die gesamte Arabische Halbinsel in
ihre Gewalt gebracht hatten. 1801 eroberten und plünderten sie die den
Schiiten heilige Stadt Kerbela im heutigen Irak – ein Fanal, denn der
Wahhabismus richtet sich vehement gegen den als "unislamisch"
gegeißelten Schiismus. Aber auch Sunniten anderer Rechtsschulen wurden zu
Opfern. 1806 fielen die Wahhabiten in Mekka und Medina ein und zerstörten
beziehungsweise attackierten alle Einrichtungen und Gebäude, die aus ihrer
Sicht eine "Glaubensabweichung" symbolisierten. Dazu gehörte nicht
zuletzt die Grabmoschee des Propheten Muhammad, denn in ihrer Lesart des
Islam beförderte eine derartige Grabanlage die Anbetung von Menschen.
Damit hatten sie jedoch den in Personalunion herrschenden Sultan und Kalifen
in Istanbul, der sich als Schutzherr seiner Untertanen und der Heiligen
Stätten des Islam erweisen musste, elementar herausgefordert. Kein Kalif
konnte den Verlust von Mekka und Medina hinnehmen, zumal ihm die
Pilgereinnahmen sehr zustatten kamen. Der osmanische Statthalter in Ägypten,
Muhammad Ali Pascha, führte im Auftrag des Kalifen Krieg gegen die Wahhabiten
und brachte ihnen 1818 eine entscheidende Niederlage bei. Das Oberhaupt der
Al Saud endete auf dem Richtblock in Istanbul. Das erste
Staatsbildungsexperiment der Al Saud war gescheitert.
Abbildung 1: Das Haus Saud
Der sich über das gesamte 19. Jahrhundert
hinziehende Niedergang des Osmanischen Reichs schuf jedoch Chancen für die Al
Saud, einen zweiten Versuch der Vereinigung der Arabischen Halbinsel unter
ihrer Führung zu wagen. Zwischen 1824 und 1891 darf mit einiger Berechtigung
von einem zweiten saudischen Staat gesprochen werden, auch wenn dieser nie
die Ausmaße des ersten erreichte und sich verschiedene Familienflügel in der
Herrschaft ablösten. Die ständigen Fehden erinnerten an die Periode vor 1744,
zumal das wahhabitische Element nur ungenügend zum Tragen kam. Das zweite
Experiment scheiterte letztlich primär an familieninternen Zerwürfnissen und
dem Mangel an einer mobilisierenden Mission. 1891 wurden die Al Saud vom
konkurrierenden Stamm der Al Raschid aus Riad vertrieben. Die Al Sabah in
Kuwait boten Exil.
Mit der Rückeroberung Riads durch Abd al-Aziz Ibn Saud begann 1902 der dritte
Versuch der Schaffung eines zentralen Staates auf der Arabischen Halbinsel,
der 1932 mit der Proklamation des Königreichs Saudi-Arabien zum Abschluss
kam. Ibn Saud hatte dabei zwei entscheidende Lehren aus den gescheiterten
Versuchen gezogen: Erstens das außenpolitische Kräfteverhältnis vor jedem
entscheidenden Expansionsschritt genau zu prüfen. So spielte er in den
dreißig Jahren zwischen 1902 und 1932 zunächst geschickt die Interessen des
Osmanischen Reichs und des Britischen Empires gegeneinander aus und versicherte
sich später zudem des Wohlwollens der zukünftigen Weltmacht USA. Zweitens den
Wahhabismus wieder gebührend in Wert zu setzen. Ibn Saud knüpfte nicht nur an
die Erfahrungen des ersten Reichs an, sondern schuf ab 1912 mit den
Ichwan-Milizen ein ausschließlich seinem Befehl folgendes "stehendes
Heer", dessen offizielle Mission die Verbreitung des wahhabitischen
Glaubens war. Die quasi kaserniert lebenden und somit sesshaften
"Wehrbauern" verbrachten ihre Tage mit militärischer Ausbildung,
landwirtschaftlicher Tätigkeit und dem Studium des Koran. Die Ichwan
(arabisch für "Brüder") zeigten sich allen Konkurrenten auf der
Arabischen Halbinsel militärisch weit überlegen.
Mechanismen der Symbiose
Die symbiotische Beziehung zwischen der Familie Saud und der wahhabitischen
Geistlichkeit begünstigte eine außergewöhnliche Machtfülle des Königs. Er
steht unangefochten an der Spitze der Machtpyramide. Er vereint in seiner
Person die Funktionen des Staatsoberhauptes und des Ministerpräsidenten. Er
setzt Gesetze in Kraft und befehligt als Oberkommandierender alle
Streitkräfte des Landes. Zudem verkörpert er als "Hüter der beiden
Heiligen Stätten" in Mekka und Medina auch die höchste religiöse
Autorität Saudi-Arabiens. Diese Ämterhäufung personifiziert die strikte
Ablehnung einer Trennung von Staat und Religion, die auch in der Tatsache zum
Ausdruck kommt, dass Koran und Sunna offiziell als Verfassung des Landes
gelten. Dem König und der durch ihn mitregierenden Familie Saud – Prinzen
besetzen die wichtigsten Ministersessel – gelang es bisher, demokratische
Mitbestimmungsformen wie Wahlen und dafür notwendige Voraussetzungen wie
Parteien, funktionierende Interessenverbände und Gewerkschaften, zu
verhindern. [1]
Aber trotz ihrer Machtfülle hätte sich die Familie Saud kaum seit 1932 an der
Spitze des Staates halten können, wenn sie nicht immer wieder betonen würde,
an der Vereinbarung von 1744 festzuhalten. Für den Politikwissenschaftler
Joseph Kechichian erfüllt die Rechtfertigung der Herrschaft der Al Saud durch
Abd al-Wahhab bei gleichzeitiger Zusicherung der Königsfamilie, diese
"wahhabitische" Religionsauslegung zu schützen und zu verbreiten,
für Saudi-Arabien eine ähnliche Funktion wie die Verfassung und die Bill of
Rights für die USA. [2] Weil Ibn Saud diese Allianz erneut zum
Grundpfeiler seiner Staatsgründung machte, können seine Nachfolger wieder auf
die Unterstützung durch die Spitzen der Geistlichkeit bauen, die zwar kaum in
die tagtägliche Regierungspolitik involviert sind, aber wichtige Inhalte der
Gesetzgebung bestimmen und aufmerksam über die Einhaltung der wahhabitischen
Normen wachen. So gilt in Saudi-Arabien die islamische Rechtsvorschrift, die
Scharia, quasi uneingeschränkt. Gesetzestexte, die sich auf Vorgänge des
modernen Wirtschafts-, Finanz- und Alltagslebens beziehen, werden von
islamischen Rechtsgelehrten auf ihre Vereinbarkeit mit der Scharia geprüft,
bevor sie durch königliches Dekret wirksam werden. Für die Stabilität der
Saud-Herrschaft von besonderer Bedeutung sind politische Rechtsvorschriften.
So verbietet das "Nationale Sicherheitsgesetz" von 1965 jede
öffentliche Kritik des Islam, der Regierung oder der erweiterten
Königsfamilie. Zuwiderhandlungen führen zu sofortigem Arrest, der ohne
Prozess fortgesetzt werden darf, bis der Inhaftierte entweder gesteht oder
beeidigt, in Zukunft von politischen Tätigkeiten beziehungsweise
Meinungsäußerungen Abstand zu nehmen. In diesem Zusammenhang spielt das 1964
erlassene und 1982 überarbeitete Pressegesetz eine besondere Rolle. Die
Medien sind demnach verpflichtet, den (wahhabitischen) Islam zu verbreiten,
Atheismus zu bekämpfen, arabischen Interessen zu dienen und die Traditionen
Saudi-Arabiens zu wahren. [3]
Mit dem "Rat der hochrangigen Gelehrten" (Hay’at kibar al-‘ulema’)
gaben sich die höchsten islamischen Rechtsgelehrten des Landes 1971 eine
Instanz. [4] Im Oktober 1994 erhielt der Rat zwei wichtige Ergänzungen: zum einen den
14-köpfigen "Rat des islamischen Rufs" (Majlis ad-da‘wa), der mit
Mustervorlagen vor allem Einfluss auf den Inhalt der landesweiten
Freitagspredigten nimmt, und zum anderen den "Höchsten Rat für
islamische Angelegenheiten" (Al-majlis al-a’la lil-shu‘un islamiyyah),
dem es primär obliegt, die Unterstützung für islamische Organisationen im
Ausland zu koordinieren. [5]
Das Verhältnis zwischen Königshaus und hoher Geistlichkeit ist dabei aber
nicht mit den Beziehungen zwischen den Al Saud und den Nachkommen Ibn
Wahhabs, den Al asch-Scheich, identisch. Obwohl sie in Vergangenheit und
Gegenwart wichtige religiöse Funktionen ausüb(t)en, trifft eine Beschreibung,
die den Al Saud die weltliche und den Al asch-Scheich die religiöse Macht
zuschreibt, nicht den Kern. Beide Familien sind religiös, wobei bei
erstgenannter die politische Macht und bei letztgenannter das religiöse
Prestige überwiegt. Glaube kann nicht "vererbt" werden, und so
finden sich sowohl bei den Al Saud besonders fromme Herrscher wie etwa der
1975 ermordete Faisal, der interessanterweise mütterlicherseits von den Al
asch-Scheich abstammte, als auch bei den Al asch-Scheich aktive Unternehmer,
Bankiers und Politiker. [6] Mit Abd al-Aziz Ibn Abdallah Al asch-Scheich stellen die Nachkommen Abd
al-Wahhabs seit 1999 aber wieder den Großmufti des Landes.
Kehrseiten der Symbiose: Ausgrenzung
Andersgläubiger und Legitimitätsvorbehalt
Mit der Erhebung des Wahhabismus zur Staatsreligion ging eine rigide
Ablehnung und Bekämpfung abweichender Islamvorstellungen einher. Das betraf
vor allem den schiitischen Islam. Dieser gilt den wahhabitischen Gelehrten
als rafida, als eine Sekte, die sich außerhalb des anerkannten Rahmens des
Islam bewegt. [7] Schiiten werden deshalb seit der Staatsgründung diskriminiert, bisweilen
auch verfolgt. Obwohl die Schiiten nur zwischen sechs [8] und 13 Prozent [9] der saudischen Bevölkerung ausmachen, kommt ihnen eine Bedeutung zu, die
weit über ihren quantitativen Bevölkerungsanteil hinausgeht. Ihre Mehrzahl
ist nämlich in der Ostprovinz, dem alten al-Hasa, beheimatet. In dieser
Provinz liegen die Hauptlagerstätten und Verarbeitungs- beziehungsweise Transportkapazitäten
des saudischen Erdöls. Weil den in beduinischer Tradition lebenden Wahhabiten
jegliche körperliche Erwerbsarbeit suspekt ist, wurden die robusten Arbeiten
in der Erdölwirtschaft an die Schiiten delegiert, mit erheblichen Folgen:
Schiitische Beschäftigte stellen das Rückgrat der Belegschaft in der
Erdölproduktion – ihr wichtigster Trumpf im Verhältnis zu Riad. Schiitischer
Widerstand gegen die allwaltende Unterdrückung und Diskriminierung
organisierte sich ab 1975 konspirativ unter Führung des Rechtsgelehrten
Scheich Hassan al-Saffar. Vier Jahre später ermutigte die erfolgreiche
schiitische Revolution im Nachbarland Iran ihn und seine Anhänger. Sie
organisierten 1980 und 1981 Massendemonstrationen und Streiks, die jedoch von
der Staatsmacht brutal niedergeschlagen wurden. Scheich al-Saffar erkannte,
dass ein gewaltsamer Sieg über die Al Saud unmöglich war. Er nahm von
revolutionärer Rhetorik Abstand und forderte nun unter anderem demokratische
Umgestaltungen für das gesamte Land, die Einhaltung der Menschenrechte und
eine Verfassung. [10] Damit gehören die Schiiten zu den frühesten
Impulsgebern der Demokratie- respektive politischen Reformbewegung in
Saudi-Arabien.
Die Allianz zwischen Königshaus und Geistlichkeit hat zwar aus beider Sicht
zum Erfolg geführt, die verbindlichen wahhabitischen Rechtsnormen beinhalten
aber auch gleichzeitig die größte legitimatorische Gefahr für den jeweiligen
König. So existieren bei aller Machtfülle saudi-arabischer Herrscher etwa erhebliche
Unterschiede zu europäischen Monarchen aus der Zeit des Absolutismus. Könige
in Riad können nicht für sich in Anspruch nehmen, durch göttliches Recht
beziehungsweise von "Gottes Gnaden" zu herrschen. Sie unterliegen
dem islamischen Recht wie ihre Untertanen. Da sich aus dem Anspruch, in
Konformität mit dem islamischen Recht zu herrschen, der Kern ihrer
Legitimität ableitet, sind alle Könige letztlich darauf angewiesen, dass die
Untertanen die Übereinstimmung bestätigen oder sie zumindest nicht in Abrede
stellen. Konsens (ijma) macht einen wichtigen Bestandteil des islamischen
Rechts durch die Annahme aus, dass die Meinungsübereinstimmung der gesamten
islamischen Gemeinschaft göttlich inspiriert ist, der König allein jedoch
nicht. Deshalb sucht er den Konsens mit den Gläubigen und steht der Konsens
als Herrschaftsprinzip über nie gänzlich zu unterbindender Willkür.
Ganz offensichtlich bedeutet dieses Prinzip für den jeweiligen König Fluch
und Segen zugleich: Während er in Zeiten von Prosperität und Expansion auf
ein starkes legitimatorisches Korsett seiner Herrschaft vertrauen darf, wird
die Legitimation umgehend infrage gestellt, wenn es in der Symbiose kriselt
oder die Staatsräson der wahhabitischen Weltsicht zuwiderläuft. Das musste
schon Staatsgründer Ibn Saud schmerzhaft erfahren. So hatte er einerseits das
wahhabitische Sendungsbewusstsein in Gestalt der von ihm geschaffenen
Ichwan-Milizen besonders erfolgreich ausgenutzt, um seinem Machtanspruch
Durchschlagskraft zu verleihen. In dem Maße, wie die Staatsbildung
abgeschlossen war beziehungsweise eine weitere Ausdehnung des Staatsgebiets
am Widerstand militärisch wehrhafter Nachbarstaaten oder – gefährlicher – an
der Herausforderung britischer Kolonialinteressen in den anvisierten Gebieten
scheiterte, bedeutete der an keinen Nationalstaat zu bindende
Missionierungseifer der Ichwan jedoch andererseits eine Gefahr für das
Staatsbildungsprojekt. Ibn Saud sah sich in der klassischen Rolle des
Zauberlehrlings, der die von ihm gerufenen Geister nicht mehr beherrscht.
1929 löste er das Problem gewaltsam, indem er die Ichwan, die er erst 1912
formiert hatte, militärisch zerschlug. Trotzdem blieb das
Religionsverständnis, das sich an die Existenz der Ichwan knüpfte, in
Saudi-Arabien lebendig. Es behauptet sich bis heute in dem Teil der
Gesellschaft, dem jegliche Veränderung der "reinen wahhabitischen
Lehre" suspekt erscheint.
Zunächst deutete jedoch noch wenig auf die Zuspitzung dieses
gesellschaftlichen Widerspruchs hin. Als 1938 die ersten großen Erdölfunde in
Saudi-Arabien gelangen und selbst nach 1945, als mit der kommerziellen
Ausbeutung in größerem Rahmen begonnen wurde, stellte sich die
saudi-arabische Gesellschaft noch weitgehend "archaisch" und
homogen dar. Die zugrunde liegenden Stammesstrukturen dominierten die
bestenfalls embryonalen Ansätze einer Unternehmerschaft, Arbeiterklasse oder
von Mittelschichten. Mit der Aufnahme und Ausweitung der Erdölförderung kamen
jedoch nicht nur Devisen, sondern auch ausländische Spezialisten,
ausländisches Know-how, fremde Ideen und Gebrauchsgüter ins Land. Es setzte
ein rapider sozialer Differenzierungsprozess ein. Auf den Erdölfeldern
entstand eine zunehmend selbstbewusste Arbeiterschaft. Reichlich Kapital und
der wachsende Bedarf an Dienstleistungen ließen eine Schicht privater
Unternehmer entstehen. Dazwischen formierte sich eine Mittelschicht, deren
Bildungsstand – auch durch Auslandsstudien – beständig stieg. In den
westlichen Importländern wuchs unter den Bedingungen des Kalten Krieges die
Sorge vor einem Umsturz durch antimonarchistische, linke und nationalistische
Kräfte. König Faisal war der erste Monarch, der die Sorgen – auch aus eigener
Einsicht – offensiv aufgriff und mit einem Modernisierungsprogramm
beantwortete. Die 1960er Jahre standen ganz im Zeichen seiner Bemühungen,
Saudi-Arabien vor allem durch Wirtschafts- und Strukturreformen
"fit" für das späte 20. Jahrhundert zu machen. Zu Beginn der 1970er
Jahre trat ein Ereignis ein, das sein Modernisierungsprogramm enorm
beschleunigte, das die saudi-arabische Gesellschaft aber auch vor eine
Zerreißprobe stellte: die Vervielfachung der Erdöleinnahmen.
Nachdem der saudische Staat Förderung und Vermarktung des flüssigen
Kohlenwasserstoffs zu Beginn des Jahrzehnts in eigene Regie genommen hatte,
explodierte der Erdölpreis 1973 von 1,86 US-Dollar pro Barrel auf über elf
US-Dollar pro Barrel. 1980 erzielte Saudi-Arabien Exporterlöse von 102,2
Milliarden US-Dollar. Das bedeutete eine 53-fache Erhöhung der Erdöleinnahmen
innerhalb eines Jahrzehnts. Ein deviseninduzierter Wirtschaftsboom nahm in
Saudi-Arabien seinen Lauf, der in der arabischen Welt seinesgleichen sucht.
Es entstand nicht nur die glitzernde Fassade einer Wirtschafts- und
Finanzmacht, sondern auch die Gesellschaft wurde zusehends differenzierter und
lebendiger. Immer nachdrücklicher forderten Privatunternehmer, Intellektuelle
und Fachleute eine Ergänzung der Wirtschafts- durch politische Reformen:
sprich die Implementierung bürgerlicher Freiheiten. Auf der anderen Seite
fürchteten viele Gläubige, nicht nur Geistliche, eine nachhaltige Erosion der
wahhabitischen Grundlagen des Staates. Die Besetzung der Großen Moschee von
Mekka im November 1979 durch militante Vertreter dieser Strömung markierte
den offensichtlichsten Ausdruck der Befürchtungen.
Etwa 200 Islamisten, die sich ausdrücklich auf die Ichwan-Traditionen
beriefen, besetzten die Große Moschee und nahmen Tausende Pilger als Geiseln.
Sie forderten während der dreiwöchigen Besetzung zwar nicht den Sturz der Al
Saud, aber deren konsequente Absage an jede Abweichung von der reinen
wahhabitischen Lehre. Die Herrscherfamilie betrachtete den Angriff auf ihren
Legitimitätsanspruch als so gravierend, dass sie die Besetzung unter Einsatz
aller zur Verfügung stehenden Gewaltmittel und unter Hinnahme eines hohen
Blutzolls beendete. Sie lernte überdies aus dem Ereignis, dass Gefahren für
ihre Herrschaft vor allem von jenen Kräften ausgingen, denen das Tempo der
Veränderungen zu schnell war. So kamen sie den wahhabitischen Bedenkenträgern
von nun an durch eine noch peniblere Einhaltung der Glaubensnormen im Inland
entgegen. Im Ausland betätigten sich die Al Saud als Initiator und Finanzier
islamischer Wohlfahrts- und Missionierungsleistungen. Außerdem ermutigten und
finanzierten sie den Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzer
in Afghanistan.
Der Zweite Golfkrieg, der mit dem irakischen Einmarsch in den Nachbarstaat
Kuwait am 2. August 1990 begann, löste eine Krise aus, die weitere Risse im
Sicherheitsgefüge des Staates offenbarte. Die Gefahr, dass Saddam Hussein
sich nicht mit Kuwait zufriedengeben würde und sich der saudi-arabischen
Erdölfelder bemächtigen könnte, wurde als so real eingeschätzt, dass in Riad
hektische Überlegungen über die eigene Verteidigungsfähigkeit angestellt
wurden. Die Al Saud kamen zu dem ernüchternden Schluss, dass sie fremde, vor
allem westliche, "ungläubige" Truppen zum Schutz rufen mussten. Das
Hilfeersuchen bewerteten viele fromme Saudi-Araberinnen und -Araber als
Offenbarungseid, zumal die fremden, namentlich die US-Truppen, auch nach dem
Zweiten Golfkrieg auf saudischem Boden stationiert blieben und die Al Saud
einen förmlichen Verteidigungspakt mit den USA eingingen. Sie fragten sich:
Warum mussten ausgerechnet die USA um militärische Hilfe gebeten werden?
Waren die Abermilliarden an Rüstungsimporten umsonst? Ist das saudische
Schwert nutzlos ohne den amerikanischen Schild? Jedenfalls waren nun
US-Amerikaner und nicht die Al Saud die wahren Hüter Mekkas und Medinas –
eine Wahrnehmung, die deren Legitimitätsanspruch ins Herz traf.
Vor diesem Hintergrund formierte sich nun auch geistlicher Widerstand. Am 18.
Mai 1991 erhielt der damalige König Fahd eine von 400 geistlichen
Würdenträgern unterzeichnete Petition. Das Schriftstück trug sogar die
Unterschrift von Großmufti Abd al-Aziz Ibn Baz. Die Petition forderte die
konsequentere Beachtung islamischer Normen in der Landespolitik. Obwohl das
Königshaus die Loyalität der höchsten Rechtsgelehrten wiederherstellen
konnte, war die Krise damit noch nicht ausgestanden. Im Juli 1992 wandten
sich 105 Geistliche mit einem "Memorandum der Ermahnung" erneut an
den König. Damit deutete sich ein Bruch im politischen Gefüge des Landes an.
Nicht mehr alle Geistlichen, sondern nur noch die höchsten islamischen
Würdenträger standen unerschütterlich zum Palast. Rechtsgelehrte niederen
Ranges, oft im Verbund mit intellektuellen Laien, sahen dagegen die dringende
Verpflichtung, die Al Saud erneut zur Einhaltung des "rechten
Weges" zu mahnen. Das Memorandum geißelte denn auch die Korruption und
forderte die Annullierung aller Militärverträge mit westlichen Staaten,
radikale Veränderungen in der politischen, ökonomischen und sozialen Lage des
Landes, die vollständige Trennung von Exekutive und Judikative sowie das Ende
der staatlichen Kontrolle über die Inhalte theologischer Lehre. [11] Das Memorandum
begründete eine neue Protestkultur. Fortan bedienten sich sowohl liberale als
auch islamistische Kräfte des Werkzeugs der Petition, um auf Missstände
aufmerksam zu machen und Veränderungen zu fordern.
"Zweifrontenkrieg"
War die Periode bis zum Zweiten Golfkrieg vor
allem von politischen Mitteln beherrscht, um den Spagat zwischen Tradition
und Moderne zu meistern, so waren die folgenden Jahrzehnte zunehmend von gewaltsamen
Mitteln gekennzeichnet. Diese Entwicklung trägt in gewisser Hinsicht einen
Namen: Osama bin Laden. Osama, Angehöriger einer der reichsten Familien
Saudi-Arabiens, war in den 1980er Jahren – mit Billigung der Regierung – nach
Afghanistan gegangen, um gegen die sowjetischen Besatzer zu kämpfen. Obwohl
er Guerillas aus vielen islamischen Ländern organisierte und bezahlte,
stellten doch Landsleute 80 Prozent seiner Verbände. Nach ihrer Rückkehr kurz
vor und nach dem Zweiten Golfkrieg stellten sie fest, dass die Verhältnisse
in Saudi-Arabien so gar nicht den Vorstellungen entsprachen, für die sie in
Afghanistan gekämpft hatten. [12] Dort war die fremde, "ungläubige"
Rote Armee vertrieben worden, während die Al Saud gerade eine andere
"ungläubige", nur diesmal westliche Streitmacht in das Land der
Heiligen Stätten gerufen hatten. Bin Laden formte aus seinen Anhängern das
Advice and Reform Committee (ARC) und forderte König Fahd am 3. August 1995
in einem offenen Brief zunächst auf, zu den ursprünglichen Lehren Ibn Wahhabs
zurückzukehren und die westlichen Soldaten aus dem Land zu weisen. [13] Als
er darauf keine Antwort erhielt, erklärte er den Al Saud den Krieg, weil sie
"hartnäckig gegen die Gebote Gottes verstießen". [14] Der Krieg begann am
13. November 1995 mit der Explosion einer Autobombe vor einem
Ausbildungslager der Nationalgarde in Riad, bei der sieben Menschen, darunter
fünf US-Amerikaner, getötet und 60 verletzt wurden, und erreichte am 25. Juni
1996 einen vorläufigen Höhepunkt, als einer Bombenexplosion in al-Khobar bei
Dahran 19 US-Amerikaner zum Opfer fielen und mehr als 500 Einheimische
verletzt wurden. Das anschließend deutliche Abflauen der Anschläge erleichterte
es aber den Al Saud, die Existenz eines einheimischen Terrorproblems
hartnäckig zu leugnen. Dabei hatten sie die "Ruhe" nur einem
Strategiewechsel Osama bin Ladens zu verdanken. Dieser war zu der Überzeugung
gelangt, dass es wenig Sinn ergebe, die Marionette anzugreifen und den
Puppenspieler zu verschonen. Wenn die USA besiegt würden, wäre auch das
Regime der Al Saud verloren. Die Strategie mündete direkt in den 11.
September 2001.
Die Tatsache, dass 15 der 19 Attentäter auf das World Trade Center und das
Pentagon aus Saudi-Arabien stammten, bescherte den Al Saud im Herbst 2001 die
zweite spürbare Legitimitätskrise nach 1990. Das betraf zunächst das
Verhältnis zu ihrer "Garantiemacht" USA. Nicht zuletzt, weil Osama
bin Laden seiner Strategie ein enges Verhältnis zwischen den USA und
Saudi-Arabien zugrunde gelegt hatte, trafen seine Terroranschläge gegen das
World Trade Center und das Pentagon letztlich auch Riad. Allein die Tatsache,
dass Saudi-Arabien der weltgrößte Erdölexporteur ist und die USA der größte
Erdölkonsument sind, begründete außerordentlich enge Beziehungen zwischen
beiden Staaten, seit sich US-Präsident Roosevelt und König Ibn Saud 1945 auf
dem Kreuzer "Quincy" getroffen hatten. Dreißig Jahre später erhob
US-Präsident Jimmy Carter die Sonderbeziehungen in den Rang einer Doktrin,
als er der Golfregion eine "vitale Bedeutung" für die USA
zuschrieb. Diese Doktrin – formalisiert durch bilaterale Militärabkommen –
bildete auch die Grundlage für die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien
nach 1990. Dazwischen und danach lagen Jahre des gemeinsamen Kampfes gegen
Kommunismus, arabischen Sozialismus und Islamismus in der Version Ayatollah
Khomeinis. Die Interessenübereinstimmung war so stark, dass sie
außerordentlich unterschiedliche Wertvorstellungen in beiden Ländern
überdeckte. Ein weiterer wesentlicher Grund für die Kohäsion lag in der
enormen Summe von etwa 700 Milliarden US-Dollar, die saudische Investoren in
den USA anlegten. [15] Damit ist Saudi-Arabien unmittelbar am
Wohlergehen der US-Wirtschaft interessiert. Es entstand quasi ein Kartell aus
Erzeugern und Verbrauchern, die beide einen Preis anstreben, der der
Gegenseite nicht schadet.
Nach dem 11. September schien es nun bisweilen, als würde alles in Jahrzehnten
Gewachsene infrage gestellt. Wirtschaftliche Interessenübereinstimmungen
bestanden zwar fort, aber Politiker und Medien in den USA fragten sich jetzt,
wie zuverlässig ein verbündetes Land sein kann, aus dem die übergroße
Mehrheit der Attentäter stammte. [16] Im Juli 2002 gelangten Ergebnisse einer
Studie der Rand Corporation für das Pentagon an die Öffentlichkeit, in der
Saudi-Arabien zum Feind erklärt und die USA zu einem Kurswechsel aufgerufen
wurden. [17] Vor
diesem Hintergrund fand auch eine Verlagerung von 6000 US-Soldaten aus
Saudi-Arabien in die "gastfreundlicheren" Emirate Kuwait und Katar
statt. Zudem machte die US-Regierung unmissverständlich klar, dass sie klare
und nachhaltige Schritte im Kampf gegen den Terror von Saudi-Arabien
erwartete. [18] Dazu
gehörten aus ihrer Sicht die Bekämpfung, Festsetzung, gegebenenfalls
Auslieferung von Terroristen und die Unterbindung jeglicher finanzieller
Unterstützung für "dubiose" Empfänger.
Auch im Inland häuften sich die Probleme. Am 6. Oktober 2001 begannen die
seit Jahren unterbrochenen Bombenanschläge wieder, als – ein weiteres Mal in
al-Khobar – zwei Ausländer, darunter ein US-Amerikaner, getötet und vier
verletzt wurden. Autobomben zündeten auch in den folgenden Monaten. Immerhin
gestand die Regierung nun Aktivitäten von al-Qaida im Inland ein und damit
das Vorhandensein eines erheblichen Terrorproblems. Die Reaktion erfolgte auf
zwei Ebenen: zum einen durch den massiven Einsatz des Repressionsapparates
und zum anderen durch die Mobilisierung der geistlichen Verbündeten. Am 14.
November 2002 lud Kronprinz und Regent Abdallah die höchsten geistlichen
Würdenträger zu einer Audienz und verlangte von ihnen, sich öffentlich vom Extremismus
zu distanzieren, keine Hassgefühle zu schüren und alle Worte und Taten zu
unterlassen, die dem Königshaus schaden könnten. [19] Prediger, die sich
nicht an die Abmachung hielten, wurden zu Tausenden gemaßregelt und erhielten
Redeverbot. Königshaus und Regierung waren auf der anderen Seite bestrebt,
durch ostentative Frömmigkeit die islamistischen Eiferer zu beschwichtigen
und eine Art "Wagenburgmentalität" mit den Regierten herzustellen.
Mit mindestens ebenso viel (unfreiwilligem?) Zynismus wie beschwörender
Hoffnung erklärte der damalige Verteidigungsminister Sultan, der Terror von
al-Qaida und anderer Zellen richte sich nicht gegen saudi-arabische Bürger
und Institutionen, sondern ausschließlich gegen Ausländer. [20]
Der verheerende Anschlag vom 12. Mai 2003 schien ihm Recht zu geben. Er
zielte auf eine überwiegend von Ausländerinnen und Ausländern bewohnte
Appartementanlage in Riad und forderte 35 Todesopfer sowie etwa 80 Verletzte.
Gleichzeitig kündete der Anschlag aber auch vom Scheitern der Strategie Osama
bin Ladens. Die USA zeigten sich durch den 11. September keinesfalls so
"ins Mark" getroffen, wie beabsichtigt. Im Gegenteil, sie schlugen
– zuerst in Afghanistan – zurück. Es muss daher als Zeichen von Schwäche
gelten, wenn al-Qaida auf "weiche" Ziele wie die in Saudi-Arabien
auswich. Aber selbst dort blieben Ausländer im Allgemeinen und US-Amerikaner
im Besonderen im Visier des Terrorismus. Der Selbstmordanschlag vom 9. November
2003, der in einem vorwiegend von Einheimischen bewohnten Viertel von Riad 17
arabische Opfer forderte, nährte deshalb einen neuen Verdacht. Eine am 5.
Januar 2004 veröffentlichte Tonbandbotschaft Osama bin Ladens verschaffte
Gewissheit: Ziel von al-Qaida war ab jetzt nicht nur der Puppenspieler,
sondern auch die Marionette, weil die Al Saud dem wahren Glauben abgeschworen
hätten und unfähig seien, die Muslime zu verteidigen.
Lernprozesse
Osamas Botschaft fand allerdings kaum noch den erhofften Widerhall. Das ist
zum einen darauf zurückzuführen, dass die Königsfamilie mit einer
unnachsichtigen Verfolgung der gewaltbereiten Islamisten begann. Schon 2004
gelangten spektakuläre Erfolge: Von den zu Jahresanfang veranschlagten 500
bis 600 in Saudi-Arabien wirkenden al-Qaida-Mitgliedern wurden bis Jahresende
zwischen 400 und 500 gefangen genommen oder getötet. Das interne
Terrorproblem gilt seitdem als unterdrückt. Die nicht getöteten, verwundeten
und gefangen genommenen Kämpfer verschwanden nicht, sondern wichen mehrheitlich
vor dem Druck ins Ausland aus. Zum anderen zeigte sich, dass die Herrschenden
erneut flexibel und lernfähig waren.
Als unmittelbare Reaktion auf den 11. September hatte US-Präsident Bush die
Demokratisierung des Nahen Ostens zum Credo seiner Außenpolitik erklärt.
Washington sah in Saudi-Arabien besonderen Nachholbedarf. Regent Abdallah
wies nun Forderungen der einheimischen Opposition nach demokratischen
Umgestaltungen nicht mehr a priori zurück, sondern legte sie auf seine Weise
aus. 2003 lud er erstmals die Verfasser einer Petition zum Gespräch ein. Dem
damit wieder eröffneten Reigen von Petitionen unterschiedlicher
Interessengruppen (unter anderem auch der diskriminierten Schiiten) wurde mit
weitaus größerer Offenheit als in der Vergangenheit begegnet. Unmittelbar
nach den Anschlägen vom Mai 2003 entstand ein "Konvent zum nationalen
Dialog". Damit wurde der Grundstein für ein permanentes "Nationales
Dialogforum" gelegt, das bis heute regelmäßig tagt. Ab der dritten
Sitzung erhielten auch die Medien Zutritt. Form und thematischer Zuschnitt
der Foren zeigten, wie die Al Saud im Allgemeinen und Abdallah – seit 2005
als König – im Besonderen gedachten, den Reformprozess zu gestalten. Der
gelenkte Dialog mit auserlesenen Reformern gestattete es der Herrscherfamilie,
den Kurs und die Geschwindigkeit der Umgestaltungen selbst zu bestimmen, und
demonstrierte der kritischen Weltöffentlichkeit gleichzeitig, dass sie sich
ernsthaft um Reformen bemühten.
Nunmehr als König macht sich Abdallah dabei zunutze, dass die liberalen
Oppositionellen und Schiitenführer gegenwärtig den Schulterschluss mit ihm
suchen, weil die von al-Qaida vertretene ultrawahhabitische Alternative ihren
Ansichten und Interessen noch mehr zuwiderlaufen würde. Gegenwärtig bestehen
die "Liberalen" nicht einmal mehr auf freie Wahlen, weil sie einen
Erfolg der Ultraislamisten fürchten. Insgesamt kommt den Al Saud letztlich
entgegen, dass die saudische Gesellschaft zutiefst konservativ eingestellt
ist und Bestand dem Wandel vorzieht. Vor diesem Dilemma stehen alle
Umstürzler. Die Opposition ist zersplittert und weitgehend unorganisiert,
keine Gruppe ist so tief in der Gesellschaft verwurzelt, wie es die Al Saud
allein durch Größe, Tradition und Nutzung der verzweigten Klientelbeziehungen
sind. Das zeigte sich nicht zuletzt 2011, als zaghafte Versuche, im Gefolge
des "Arabischen Frühlings" auch in Saudi-Arabien gesellschaftliche
und politische Veränderungen herbeizuführen, im Sande verliefen.
Unruhepotenzial ist gegenwärtig noch am ehesten mit den weiterhin
diskriminierten Schiiten zu verbinden.
Fazit
In Saudi-Arabien besteht nicht nur schlechthin eine Koexistenz zwischen
System und Religion, Königshaus und höchste Geistlichkeit leben sogar in
einem fast symbiotischen Verhältnis. Die namhaftesten Rechtsgelehrten
bescheinigen den Al Saud, in Übereinstimmung mit den Lehren Ibn Abd
al-Wahhabs zu leben und zu herrschen und ihrer Aufgabe im Weltislam gerecht
zu werden: zum einen als Hüter der beiden heiligsten Stätten des Islam und
zum anderen als Förderer und Finanzier islamischer Institutionen in aller
Welt. Der Geistlichkeit verhilft der Kontrakt hingegen zu politischen,
sozialen, kulturellen, selbst wirtschaftlichen Privilegien in der
Gesellschaft, die im internationalen Maßstab wohl nur in Iran übertroffen
werden.
Bei der eher zu- als abnehmenden Bedeutung des Islam für Identitätsgefühl und
Lebensgestaltung der Saudis geht Gefahr für die religiöse Legitimierung der
Al Saud eher von dem Vorwurf aus, den selbst gestellten und von Tradition und
Gesellschaft vorgegebenen Maßstäben nicht gerecht zu werden, als etwa zu
"fundamentalistisch" oder orthodox zu sein. Seit den ersten
Petitionen der Geistlichkeit unmittelbar nach dem Zweiten Golfkrieg sind
immer wieder Forderungen einzelner Rechtsgelehrter, politischer
Oppositionsgruppen und Prediger nach einem Umdenken der Al Saud
beziehungsweise ihrer Rückkehr zu den Fundamenten des Wahhabismus laut
geworden. So lange aber die Mehrheit der Bevölkerung davon ausgeht, dass der
Vorwurf die Al Saud nicht grundsätzlich trifft, sondern allenfalls in
Einzelaspekten beziehungsweise einzelne Mitglieder, und so lange die
Königsfamilie durch ostentatives Entgegenkommen in dieser Frage Lernfähigkeit
beweist, bleibt diese Legitimitätsgrundlage ihrer Herrschaft stabil.
Insgesamt haben die Al Saud jedenfalls eine erstaunliche politische
Regulierungsfähigkeit und Flexibilität entwickelt und bewiesen. Seit dem
Beginn des Erdölbooms durchliefen Land und Gesellschaft, über die sie
herrschen, einen rapiden Wandel. Die Bevölkerung wuchs rasant, ebenso wie der
Grad der Urbanisierung und der allgemeinen Bildung. Gleichzeitig hat
Saudi-Arabien aber auch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession
erfahren. 1990/91 war es durch den Zweiten Golfkrieg mit seiner bisher
größten Herausforderung konfrontiert. "If as a
result of all these changes (…) and the outcome of the Gulf War there is no
more dissent than the current opposition, then the system is likely to
survive for quite some time." [21] Auch gegenwärtig kann ein Resümee kaum anders lauten.
Fußnoten
1. Ein Sprecher des Königshauses bemerkte dazu in –
gespielter – Naivität, dass Saudi-Arabien keiner Parteien bedürfe, weil alle
Staatsbürger automatisch Mitglieder einer Partei, der Partei Gottes seien.
Vgl. Al-Watan vom 10.2.2012.
2. Vgl. Joseph A. Kechichian, Saudi Arabia’s Will to Power, in:
Middle East Policy, 7 (2000) 2, S. 49.
3. Vgl. Geoff Simons, Saudi Arabia: The Shape of a Client Feudalism,
New York 1998, S. 20.
4. Vgl. Mamoun Fandy, Saudi Arabia and the Politics of Dissent, New
York 1999, S. 36f.
5. Vgl. Joseph A. Kechichian, Succession in Saudi Arabia, New York 2001,
S. 137.
6. Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 36.
7. Vgl. Madawi al-Rasheed, Political Legitimacy and the Production of
History: The Case of Saudi Arabia, in: Lenore G. Martin (Hrsg.), New
Frontiers in Middle East Security, Houndmills 1998, S. 40.
8. Vgl. Country Reports on Human Rights Practices 2001: Saudi Arabia,
Washington D.C. 2002, S. 7.
9. Vgl. Al-Hayat vom 7.7.1997.
10. Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 195–199.
11.
Vgl. Al-Quds al-arabi vom 1.8.1992.
12. Vgl.
BBC-World, Sendung vom 19.6.2002.
13. Vgl. M. Fandy (Anm. 4),
S. 186.
14. Mit der
Kriegserklärung waren Attentate wie das Abd al-Salam Farajs auf den
ägyptischen Präsidenten Sadat ausdrücklich auch gegen Angehörige der Al Saud
gerechtfertigt. Benjamin Orbach, Usama Bin Ladin and
al-Qa’ida: Origins and Doctrines, in: Middle East Review of International
Affairs, 5 (2001) 4, S. 19.
15. Vgl. Moin Siddiqi, The
Rise and Rise of an Equity Culture, in: The Middle East, (2005) 11, S. 44.
16. Vgl. Roula Khalaf, in:
Financial Times vom 11./12.9.2004.
17. Vgl.
Washington Post vom 6.8.2002.
18. Sie
stand dabei unter erheblichem Druck seitens des Kongresses, in den im
November 2003 ein "Saudi Arabia Accountability Act" eingebracht
worden war, der Saudi-Arabien Sanktionen androhte, wenn der US-Präsident
nicht "maximale Anstrengungen" der saudischen Regierung im Kampf
gegen den Terrorismus bestätige. Vgl. International
Crisis Group, Can Saudi Arabia Reform Itself?, ICG Middle East Report Nr. 28
vom 14.7.2004, S. 8.
19. Vgl.
Neue Zürcher Zeitung vom 16.11.2001.
20. Vgl. Gulf News vom
23.6.2002.
21. Vgl. M. Fandy (Anm. 4),
S. 243.
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