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Yemen – Index

 

Saudis und Amerika

 

 

Aus: Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 46, 2014 (5.11.2014):

http://www.bpb.de/apuz/194429/das-haus-saud-und-die-wahhabiyya

 

Historisch gewachsene Symbiose: Das Haus Saud und die Wahhabiyya

 

von Henner Fürtig

 

Zum Autor:

Henner Fürtig, Dr. phil. habil., geb. 1953; Professor für Nahoststudien am Historischen Seminar der Universität Hamburg; Direktor des GIGA-Instituts für Nahost-Studien, Neuer Jungfernstieg 21, 20354 Hamburg.

henner.fuertig@giga-hamburg.de



Als es der Familie Saud unter ihrem Oberhaupt Abd al-Aziz, genannt Ibn Saud, 1932 zum dritten Mal seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gelang, auf der Arabischen Halbinsel einen Zentralstaat unter ihrer Führung zu errichten, fußte auch diese Gründung auf einem nahezu symbiotischen Verhältnis mit der Geistlichkeit. Die Allianz geht auf das Jahr 1744 zurück, als der Dynastiegründer Muhammad Ibn Saud dem zur konservativen hanbalitischen Rechtsschule des Islam zählenden Reformer Muhammad Ibn Abd al-Wahhab zusicherte, dessen radikale, nur dem Text von Koran und Prophetentradition (Sunna) verhaftete Religionsauslegung nicht nur als die allein gültige anzunehmen, sondern sie auch zu schützen und zu verbreiten. Auf diese Weise wurde der nach seinem Begründer benannte Wahhabismus faktisch Staatsreligion in Saudi-Arabien. Im Gegenzug versprach Abd al-Wahhab – auch für seine Nachkommen, die Al asch-Scheich – die Herrschaft der Al Saud als die einzig rechtmäßige zu proklamieren.

 

Lektionen aus den ersten beiden Staatsbildungsversuchen

Die unmittelbaren Folgen des Aufeinandertreffens von Muhammad Ibn Saud und Muhammad Ibn Abd al-Wahhab waren für beide durchaus verheißungsvoll. Die strenge, asketische, buchstabengetreue Koranauslegung Abd al-Wahhabs verlangte der im Najd, dem Kernherrschaftsgebiet der Al Saud, unter archaischen Bedingungen lebenden, genügsamen Bevölkerung nichts Unzumutbares ab. Zugleich war dem ehrgeizigen Oberhaupt der Al Saud mit der neuen Lehre ein Instrument an die Hand gegeben worden, mit dem das Gewohnheitsrecht der Stämme, das Zwist und Zersplitterung begünstigt hatte, durch ein einheitliches und zudem aus dem Islam abgeleitetes Recht ersetzt werden konnte. Die Anhängerschaft beider schwoll an, jeder Erfolg konnte als "Zeichen Gottes" gedeutet werden, die Stammeskrieger unter Sauds Kommando reklamierten "gottgefälliges" Tun für sich. Die Sprengkraft dieser Liaison war so gewaltig, dass die Nachfolger der beiden Begründer der Allianz bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fast die gesamte Arabische Halbinsel in ihre Gewalt gebracht hatten. 1801 eroberten und plünderten sie die den Schiiten heilige Stadt Kerbela im heutigen Irak – ein Fanal, denn der Wahhabismus richtet sich vehement gegen den als "unislamisch" gegeißelten Schiismus. Aber auch Sunniten anderer Rechtsschulen wurden zu Opfern. 1806 fielen die Wahhabiten in Mekka und Medina ein und zerstörten beziehungsweise attackierten alle Einrichtungen und Gebäude, die aus ihrer Sicht eine "Glaubensabweichung" symbolisierten. Dazu gehörte nicht zuletzt die Grabmoschee des Propheten Muhammad, denn in ihrer Lesart des Islam beförderte eine derartige Grabanlage die Anbetung von Menschen.

Damit hatten sie jedoch den in Personalunion herrschenden Sultan und Kalifen in Istanbul, der sich als Schutzherr seiner Untertanen und der Heiligen Stätten des Islam erweisen musste, elementar herausgefordert. Kein Kalif konnte den Verlust von Mekka und Medina hinnehmen, zumal ihm die Pilgereinnahmen sehr zustatten kamen. Der osmanische Statthalter in Ägypten, Muhammad Ali Pascha, führte im Auftrag des Kalifen Krieg gegen die Wahhabiten und brachte ihnen 1818 eine entscheidende Niederlage bei. Das Oberhaupt der Al Saud endete auf dem Richtblock in Istanbul. Das erste Staatsbildungsexperiment der Al Saud war gescheitert.

 

Abbildung 1: Das Haus Saud

 

Der sich über das gesamte 19. Jahrhundert hinziehende Niedergang des Osmanischen Reichs schuf jedoch Chancen für die Al Saud, einen zweiten Versuch der Vereinigung der Arabischen Halbinsel unter ihrer Führung zu wagen. Zwischen 1824 und 1891 darf mit einiger Berechtigung von einem zweiten saudischen Staat gesprochen werden, auch wenn dieser nie die Ausmaße des ersten erreichte und sich verschiedene Familienflügel in der Herrschaft ablösten. Die ständigen Fehden erinnerten an die Periode vor 1744, zumal das wahhabitische Element nur ungenügend zum Tragen kam. Das zweite Experiment scheiterte letztlich primär an familieninternen Zerwürfnissen und dem Mangel an einer mobilisierenden Mission. 1891 wurden die Al Saud vom konkurrierenden Stamm der Al Raschid aus Riad vertrieben. Die Al Sabah in Kuwait boten Exil.

Mit der Rückeroberung Riads durch Abd al-Aziz Ibn Saud begann 1902 der dritte Versuch der Schaffung eines zentralen Staates auf der Arabischen Halbinsel, der 1932 mit der Proklamation des Königreichs Saudi-Arabien zum Abschluss kam. Ibn Saud hatte dabei zwei entscheidende Lehren aus den gescheiterten Versuchen gezogen: Erstens das außenpolitische Kräfteverhältnis vor jedem entscheidenden Expansionsschritt genau zu prüfen. So spielte er in den dreißig Jahren zwischen 1902 und 1932 zunächst geschickt die Interessen des Osmanischen Reichs und des Britischen Empires gegeneinander aus und versicherte sich später zudem des Wohlwollens der zukünftigen Weltmacht USA. Zweitens den Wahhabismus wieder gebührend in Wert zu setzen. Ibn Saud knüpfte nicht nur an die Erfahrungen des ersten Reichs an, sondern schuf ab 1912 mit den Ichwan-Milizen ein ausschließlich seinem Befehl folgendes "stehendes Heer", dessen offizielle Mission die Verbreitung des wahhabitischen Glaubens war. Die quasi kaserniert lebenden und somit sesshaften "Wehrbauern" verbrachten ihre Tage mit militärischer Ausbildung, landwirtschaftlicher Tätigkeit und dem Studium des Koran. Die Ichwan (arabisch für "Brüder") zeigten sich allen Konkurrenten auf der Arabischen Halbinsel militärisch weit überlegen.

 

Mechanismen der Symbiose


Die symbiotische Beziehung zwischen der Familie Saud und der wahhabitischen Geistlichkeit begünstigte eine außergewöhnliche Machtfülle des Königs. Er steht unangefochten an der Spitze der Machtpyramide. Er vereint in seiner Person die Funktionen des Staatsoberhauptes und des Ministerpräsidenten. Er setzt Gesetze in Kraft und befehligt als Oberkommandierender alle Streitkräfte des Landes. Zudem verkörpert er als "Hüter der beiden Heiligen Stätten" in Mekka und Medina auch die höchste religiöse Autorität Saudi-Arabiens. Diese Ämterhäufung personifiziert die strikte Ablehnung einer Trennung von Staat und Religion, die auch in der Tatsache zum Ausdruck kommt, dass Koran und Sunna offiziell als Verfassung des Landes gelten. Dem König und der durch ihn mitregierenden Familie Saud – Prinzen besetzen die wichtigsten Ministersessel – gelang es bisher, demokratische Mitbestimmungsformen wie Wahlen und dafür notwendige Voraussetzungen wie Parteien, funktionierende Interessenverbände und Gewerkschaften, zu verhindern.
[1]

Aber trotz ihrer Machtfülle hätte sich die Familie Saud kaum seit 1932 an der Spitze des Staates halten können, wenn sie nicht immer wieder betonen würde, an der Vereinbarung von 1744 festzuhalten. Für den Politikwissenschaftler Joseph Kechichian erfüllt die Rechtfertigung der Herrschaft der Al Saud durch Abd al-Wahhab bei gleichzeitiger Zusicherung der Königsfamilie, diese "wahhabitische" Religionsauslegung zu schützen und zu verbreiten, für Saudi-Arabien eine ähnliche Funktion wie die Verfassung und die Bill of Rights für die USA.
[2] Weil Ibn Saud diese Allianz erneut zum Grundpfeiler seiner Staatsgründung machte, können seine Nachfolger wieder auf die Unterstützung durch die Spitzen der Geistlichkeit bauen, die zwar kaum in die tagtägliche Regierungspolitik involviert sind, aber wichtige Inhalte der Gesetzgebung bestimmen und aufmerksam über die Einhaltung der wahhabitischen Normen wachen. So gilt in Saudi-Arabien die islamische Rechtsvorschrift, die Scharia, quasi uneingeschränkt. Gesetzestexte, die sich auf Vorgänge des modernen Wirtschafts-, Finanz- und Alltagslebens beziehen, werden von islamischen Rechtsgelehrten auf ihre Vereinbarkeit mit der Scharia geprüft, bevor sie durch königliches Dekret wirksam werden. Für die Stabilität der Saud-Herrschaft von besonderer Bedeutung sind politische Rechtsvorschriften. So verbietet das "Nationale Sicherheitsgesetz" von 1965 jede öffentliche Kritik des Islam, der Regierung oder der erweiterten Königsfamilie. Zuwiderhandlungen führen zu sofortigem Arrest, der ohne Prozess fortgesetzt werden darf, bis der Inhaftierte entweder gesteht oder beeidigt, in Zukunft von politischen Tätigkeiten beziehungsweise Meinungsäußerungen Abstand zu nehmen. In diesem Zusammenhang spielt das 1964 erlassene und 1982 überarbeitete Pressegesetz eine besondere Rolle. Die Medien sind demnach verpflichtet, den (wahhabitischen) Islam zu verbreiten, Atheismus zu bekämpfen, arabischen Interessen zu dienen und die Traditionen Saudi-Arabiens zu wahren. [3]

Mit dem "Rat der hochrangigen Gelehrten" (Hay’at kibar al-‘ulema’) gaben sich die höchsten islamischen Rechtsgelehrten des Landes 1971 eine Instanz.
[4] Im Oktober 1994 erhielt der Rat zwei wichtige Ergänzungen: zum einen den 14-köpfigen "Rat des islamischen Rufs" (Majlis ad-da‘wa), der mit Mustervorlagen vor allem Einfluss auf den Inhalt der landesweiten Freitagspredigten nimmt, und zum anderen den "Höchsten Rat für islamische Angelegenheiten" (Al-majlis al-a’la lil-shu‘un islamiyyah), dem es primär obliegt, die Unterstützung für islamische Organisationen im Ausland zu koordinieren. [5]

Das Verhältnis zwischen Königshaus und hoher Geistlichkeit ist dabei aber nicht mit den Beziehungen zwischen den Al Saud und den Nachkommen Ibn Wahhabs, den Al asch-Scheich, identisch. Obwohl sie in Vergangenheit und Gegenwart wichtige religiöse Funktionen ausüb(t)en, trifft eine Beschreibung, die den Al Saud die weltliche und den Al asch-Scheich die religiöse Macht zuschreibt, nicht den Kern. Beide Familien sind religiös, wobei bei erstgenannter die politische Macht und bei letztgenannter das religiöse Prestige überwiegt. Glaube kann nicht "vererbt" werden, und so finden sich sowohl bei den Al Saud besonders fromme Herrscher wie etwa der 1975 ermordete Faisal, der interessanterweise mütterlicherseits von den Al asch-Scheich abstammte, als auch bei den Al asch-Scheich aktive Unternehmer, Bankiers und Politiker.
[6] Mit Abd al-Aziz Ibn Abdallah Al asch-Scheich stellen die Nachkommen Abd al-Wahhabs seit 1999 aber wieder den Großmufti des Landes.

 

Kehrseiten der Symbiose: Ausgrenzung Andersgläubiger und Legitimitätsvorbehalt


Mit der Erhebung des Wahhabismus zur Staatsreligion ging eine rigide Ablehnung und Bekämpfung abweichender Islamvorstellungen einher. Das betraf vor allem den schiitischen Islam. Dieser gilt den wahhabitischen Gelehrten als rafida, als eine Sekte, die sich außerhalb des anerkannten Rahmens des Islam bewegt.
[7] Schiiten werden deshalb seit der Staatsgründung diskriminiert, bisweilen auch verfolgt. Obwohl die Schiiten nur zwischen sechs [8] und 13 Prozent [9] der saudischen Bevölkerung ausmachen, kommt ihnen eine Bedeutung zu, die weit über ihren quantitativen Bevölkerungsanteil hinausgeht. Ihre Mehrzahl ist nämlich in der Ostprovinz, dem alten al-Hasa, beheimatet. In dieser Provinz liegen die Hauptlagerstätten und Verarbeitungs- beziehungsweise Transportkapazitäten des saudischen Erdöls. Weil den in beduinischer Tradition lebenden Wahhabiten jegliche körperliche Erwerbsarbeit suspekt ist, wurden die robusten Arbeiten in der Erdölwirtschaft an die Schiiten delegiert, mit erheblichen Folgen: Schiitische Beschäftigte stellen das Rückgrat der Belegschaft in der Erdölproduktion – ihr wichtigster Trumpf im Verhältnis zu Riad. Schiitischer Widerstand gegen die allwaltende Unterdrückung und Diskriminierung organisierte sich ab 1975 konspirativ unter Führung des Rechtsgelehrten Scheich Hassan al-Saffar. Vier Jahre später ermutigte die erfolgreiche schiitische Revolution im Nachbarland Iran ihn und seine Anhänger. Sie organisierten 1980 und 1981 Massendemonstrationen und Streiks, die jedoch von der Staatsmacht brutal niedergeschlagen wurden. Scheich al-Saffar erkannte, dass ein gewaltsamer Sieg über die Al Saud unmöglich war. Er nahm von revolutionärer Rhetorik Abstand und forderte nun unter anderem demokratische Umgestaltungen für das gesamte Land, die Einhaltung der Menschenrechte und eine Verfassung. [10] Damit gehören die Schiiten zu den frühesten Impulsgebern der Demokratie- respektive politischen Reformbewegung in Saudi-Arabien.

Die Allianz zwischen Königshaus und Geistlichkeit hat zwar aus beider Sicht zum Erfolg geführt, die verbindlichen wahhabitischen Rechtsnormen beinhalten aber auch gleichzeitig die größte legitimatorische Gefahr für den jeweiligen König. So existieren bei aller Machtfülle saudi-arabischer Herrscher etwa erhebliche Unterschiede zu europäischen Monarchen aus der Zeit des Absolutismus. Könige in Riad können nicht für sich in Anspruch nehmen, durch göttliches Recht beziehungsweise von "Gottes Gnaden" zu herrschen. Sie unterliegen dem islamischen Recht wie ihre Untertanen. Da sich aus dem Anspruch, in Konformität mit dem islamischen Recht zu herrschen, der Kern ihrer Legitimität ableitet, sind alle Könige letztlich darauf angewiesen, dass die Untertanen die Übereinstimmung bestätigen oder sie zumindest nicht in Abrede stellen. Konsens (ijma) macht einen wichtigen Bestandteil des islamischen Rechts durch die Annahme aus, dass die Meinungsübereinstimmung der gesamten islamischen Gemeinschaft göttlich inspiriert ist, der König allein jedoch nicht. Deshalb sucht er den Konsens mit den Gläubigen und steht der Konsens als Herrschaftsprinzip über nie gänzlich zu unterbindender Willkür.

Ganz offensichtlich bedeutet dieses Prinzip für den jeweiligen König Fluch und Segen zugleich: Während er in Zeiten von Prosperität und Expansion auf ein starkes legitimatorisches Korsett seiner Herrschaft vertrauen darf, wird die Legitimation umgehend infrage gestellt, wenn es in der Symbiose kriselt oder die Staatsräson der wahhabitischen Weltsicht zuwiderläuft. Das musste schon Staatsgründer Ibn Saud schmerzhaft erfahren. So hatte er einerseits das wahhabitische Sendungsbewusstsein in Gestalt der von ihm geschaffenen Ichwan-Milizen besonders erfolgreich ausgenutzt, um seinem Machtanspruch Durchschlagskraft zu verleihen. In dem Maße, wie die Staatsbildung abgeschlossen war beziehungsweise eine weitere Ausdehnung des Staatsgebiets am Widerstand militärisch wehrhafter Nachbarstaaten oder – gefährlicher – an der Herausforderung britischer Kolonialinteressen in den anvisierten Gebieten scheiterte, bedeutete der an keinen Nationalstaat zu bindende Missionierungseifer der Ichwan jedoch andererseits eine Gefahr für das Staatsbildungsprojekt. Ibn Saud sah sich in der klassischen Rolle des Zauberlehrlings, der die von ihm gerufenen Geister nicht mehr beherrscht. 1929 löste er das Problem gewaltsam, indem er die Ichwan, die er erst 1912 formiert hatte, militärisch zerschlug. Trotzdem blieb das Religionsverständnis, das sich an die Existenz der Ichwan knüpfte, in Saudi-Arabien lebendig. Es behauptet sich bis heute in dem Teil der Gesellschaft, dem jegliche Veränderung der "reinen wahhabitischen Lehre" suspekt erscheint.

Zunächst deutete jedoch noch wenig auf die Zuspitzung dieses gesellschaftlichen Widerspruchs hin. Als 1938 die ersten großen Erdölfunde in Saudi-Arabien gelangen und selbst nach 1945, als mit der kommerziellen Ausbeutung in größerem Rahmen begonnen wurde, stellte sich die saudi-arabische Gesellschaft noch weitgehend "archaisch" und homogen dar. Die zugrunde liegenden Stammesstrukturen dominierten die bestenfalls embryonalen Ansätze einer Unternehmerschaft, Arbeiterklasse oder von Mittelschichten. Mit der Aufnahme und Ausweitung der Erdölförderung kamen jedoch nicht nur Devisen, sondern auch ausländische Spezialisten, ausländisches Know-how, fremde Ideen und Gebrauchsgüter ins Land. Es setzte ein rapider sozialer Differenzierungsprozess ein. Auf den Erdölfeldern entstand eine zunehmend selbstbewusste Arbeiterschaft. Reichlich Kapital und der wachsende Bedarf an Dienstleistungen ließen eine Schicht privater Unternehmer entstehen. Dazwischen formierte sich eine Mittelschicht, deren Bildungsstand – auch durch Auslandsstudien – beständig stieg. In den westlichen Importländern wuchs unter den Bedingungen des Kalten Krieges die Sorge vor einem Umsturz durch antimonarchistische, linke und nationalistische Kräfte. König Faisal war der erste Monarch, der die Sorgen – auch aus eigener Einsicht – offensiv aufgriff und mit einem Modernisierungsprogramm beantwortete. Die 1960er Jahre standen ganz im Zeichen seiner Bemühungen, Saudi-Arabien vor allem durch Wirtschafts- und Strukturreformen "fit" für das späte 20. Jahrhundert zu machen. Zu Beginn der 1970er Jahre trat ein Ereignis ein, das sein Modernisierungsprogramm enorm beschleunigte, das die saudi-arabische Gesellschaft aber auch vor eine Zerreißprobe stellte: die Vervielfachung der Erdöleinnahmen.

Nachdem der saudische Staat Förderung und Vermarktung des flüssigen Kohlenwasserstoffs zu Beginn des Jahrzehnts in eigene Regie genommen hatte, explodierte der Erdölpreis 1973 von 1,86 US-Dollar pro Barrel auf über elf US-Dollar pro Barrel. 1980 erzielte Saudi-Arabien Exporterlöse von 102,2 Milliarden US-Dollar. Das bedeutete eine 53-fache Erhöhung der Erdöleinnahmen innerhalb eines Jahrzehnts. Ein deviseninduzierter Wirtschaftsboom nahm in Saudi-Arabien seinen Lauf, der in der arabischen Welt seinesgleichen sucht. Es entstand nicht nur die glitzernde Fassade einer Wirtschafts- und Finanzmacht, sondern auch die Gesellschaft wurde zusehends differenzierter und lebendiger. Immer nachdrücklicher forderten Privatunternehmer, Intellektuelle und Fachleute eine Ergänzung der Wirtschafts- durch politische Reformen: sprich die Implementierung bürgerlicher Freiheiten. Auf der anderen Seite fürchteten viele Gläubige, nicht nur Geistliche, eine nachhaltige Erosion der wahhabitischen Grundlagen des Staates. Die Besetzung der Großen Moschee von Mekka im November 1979 durch militante Vertreter dieser Strömung markierte den offensichtlichsten Ausdruck der Befürchtungen.

Etwa 200 Islamisten, die sich ausdrücklich auf die Ichwan-Traditionen beriefen, besetzten die Große Moschee und nahmen Tausende Pilger als Geiseln. Sie forderten während der dreiwöchigen Besetzung zwar nicht den Sturz der Al Saud, aber deren konsequente Absage an jede Abweichung von der reinen wahhabitischen Lehre. Die Herrscherfamilie betrachtete den Angriff auf ihren Legitimitätsanspruch als so gravierend, dass sie die Besetzung unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Gewaltmittel und unter Hinnahme eines hohen Blutzolls beendete. Sie lernte überdies aus dem Ereignis, dass Gefahren für ihre Herrschaft vor allem von jenen Kräften ausgingen, denen das Tempo der Veränderungen zu schnell war. So kamen sie den wahhabitischen Bedenkenträgern von nun an durch eine noch peniblere Einhaltung der Glaubensnormen im Inland entgegen. Im Ausland betätigten sich die Al Saud als Initiator und Finanzier islamischer Wohlfahrts- und Missionierungsleistungen. Außerdem ermutigten und finanzierten sie den Kampf der Mudschahedin gegen die sowjetischen Besatzer in Afghanistan.

Der Zweite Golfkrieg, der mit dem irakischen Einmarsch in den Nachbarstaat Kuwait am 2. August 1990 begann, löste eine Krise aus, die weitere Risse im Sicherheitsgefüge des Staates offenbarte. Die Gefahr, dass Saddam Hussein sich nicht mit Kuwait zufriedengeben würde und sich der saudi-arabischen Erdölfelder bemächtigen könnte, wurde als so real eingeschätzt, dass in Riad hektische Überlegungen über die eigene Verteidigungsfähigkeit angestellt wurden. Die Al Saud kamen zu dem ernüchternden Schluss, dass sie fremde, vor allem westliche, "ungläubige" Truppen zum Schutz rufen mussten. Das Hilfeersuchen bewerteten viele fromme Saudi-Araberinnen und -Araber als Offenbarungseid, zumal die fremden, namentlich die US-Truppen, auch nach dem Zweiten Golfkrieg auf saudischem Boden stationiert blieben und die Al Saud einen förmlichen Verteidigungspakt mit den USA eingingen. Sie fragten sich: Warum mussten ausgerechnet die USA um militärische Hilfe gebeten werden? Waren die Abermilliarden an Rüstungsimporten umsonst? Ist das saudische Schwert nutzlos ohne den amerikanischen Schild? Jedenfalls waren nun US-Amerikaner und nicht die Al Saud die wahren Hüter Mekkas und Medinas – eine Wahrnehmung, die deren Legitimitätsanspruch ins Herz traf.

Vor diesem Hintergrund formierte sich nun auch geistlicher Widerstand. Am 18. Mai 1991 erhielt der damalige König Fahd eine von 400 geistlichen Würdenträgern unterzeichnete Petition. Das Schriftstück trug sogar die Unterschrift von Großmufti Abd al-Aziz Ibn Baz. Die Petition forderte die konsequentere Beachtung islamischer Normen in der Landespolitik. Obwohl das Königshaus die Loyalität der höchsten Rechtsgelehrten wiederherstellen konnte, war die Krise damit noch nicht ausgestanden. Im Juli 1992 wandten sich 105 Geistliche mit einem "Memorandum der Ermahnung" erneut an den König. Damit deutete sich ein Bruch im politischen Gefüge des Landes an. Nicht mehr alle Geistlichen, sondern nur noch die höchsten islamischen Würdenträger standen unerschütterlich zum Palast. Rechtsgelehrte niederen Ranges, oft im Verbund mit intellektuellen Laien, sahen dagegen die dringende Verpflichtung, die Al Saud erneut zur Einhaltung des "rechten Weges" zu mahnen. Das Memorandum geißelte denn auch die Korruption und forderte die Annullierung aller Militärverträge mit westlichen Staaten, radikale Veränderungen in der politischen, ökonomischen und sozialen Lage des Landes, die vollständige Trennung von Exekutive und Judikative sowie das Ende der staatlichen Kontrolle über die Inhalte theologischer Lehre. [11] Das Memorandum begründete eine neue Protestkultur. Fortan bedienten sich sowohl liberale als auch islamistische Kräfte des Werkzeugs der Petition, um auf Missstände aufmerksam zu machen und Veränderungen zu fordern.

 

"Zweifrontenkrieg"

 

War die Periode bis zum Zweiten Golfkrieg vor allem von politischen Mitteln beherrscht, um den Spagat zwischen Tradition und Moderne zu meistern, so waren die folgenden Jahrzehnte zunehmend von gewaltsamen Mitteln gekennzeichnet. Diese Entwicklung trägt in gewisser Hinsicht einen Namen: Osama bin Laden. Osama, Angehöriger einer der reichsten Familien Saudi-Arabiens, war in den 1980er Jahren – mit Billigung der Regierung – nach Afghanistan gegangen, um gegen die sowjetischen Besatzer zu kämpfen. Obwohl er Guerillas aus vielen islamischen Ländern organisierte und bezahlte, stellten doch Landsleute 80 Prozent seiner Verbände. Nach ihrer Rückkehr kurz vor und nach dem Zweiten Golfkrieg stellten sie fest, dass die Verhältnisse in Saudi-Arabien so gar nicht den Vorstellungen entsprachen, für die sie in Afghanistan gekämpft hatten. [12] Dort war die fremde, "ungläubige" Rote Armee vertrieben worden, während die Al Saud gerade eine andere "ungläubige", nur diesmal westliche Streitmacht in das Land der Heiligen Stätten gerufen hatten. Bin Laden formte aus seinen Anhängern das Advice and Reform Committee (ARC) und forderte König Fahd am 3. August 1995 in einem offenen Brief zunächst auf, zu den ursprünglichen Lehren Ibn Wahhabs zurückzukehren und die westlichen Soldaten aus dem Land zu weisen. [13] Als er darauf keine Antwort erhielt, erklärte er den Al Saud den Krieg, weil sie "hartnäckig gegen die Gebote Gottes verstießen". [14] Der Krieg begann am 13. November 1995 mit der Explosion einer Autobombe vor einem Ausbildungslager der Nationalgarde in Riad, bei der sieben Menschen, darunter fünf US-Amerikaner, getötet und 60 verletzt wurden, und erreichte am 25. Juni 1996 einen vorläufigen Höhepunkt, als einer Bombenexplosion in al-Khobar bei Dahran 19 US-Amerikaner zum Opfer fielen und mehr als 500 Einheimische verletzt wurden. Das anschließend deutliche Abflauen der Anschläge erleichterte es aber den Al Saud, die Existenz eines einheimischen Terrorproblems hartnäckig zu leugnen. Dabei hatten sie die "Ruhe" nur einem Strategiewechsel Osama bin Ladens zu verdanken. Dieser war zu der Überzeugung gelangt, dass es wenig Sinn ergebe, die Marionette anzugreifen und den Puppenspieler zu verschonen. Wenn die USA besiegt würden, wäre auch das Regime der Al Saud verloren. Die Strategie mündete direkt in den 11. September 2001.

Die Tatsache, dass 15 der 19 Attentäter auf das World Trade Center und das Pentagon aus Saudi-Arabien stammten, bescherte den Al Saud im Herbst 2001 die zweite spürbare Legitimitätskrise nach 1990. Das betraf zunächst das Verhältnis zu ihrer "Garantiemacht" USA. Nicht zuletzt, weil Osama bin Laden seiner Strategie ein enges Verhältnis zwischen den USA und Saudi-Arabien zugrunde gelegt hatte, trafen seine Terroranschläge gegen das World Trade Center und das Pentagon letztlich auch Riad. Allein die Tatsache, dass Saudi-Arabien der weltgrößte Erdölexporteur ist und die USA der größte Erdölkonsument sind, begründete außerordentlich enge Beziehungen zwischen beiden Staaten, seit sich US-Präsident Roosevelt und König Ibn Saud 1945 auf dem Kreuzer "Quincy" getroffen hatten. Dreißig Jahre später erhob US-Präsident Jimmy Carter die Sonderbeziehungen in den Rang einer Doktrin, als er der Golfregion eine "vitale Bedeutung" für die USA zuschrieb. Diese Doktrin – formalisiert durch bilaterale Militärabkommen – bildete auch die Grundlage für die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien nach 1990. Dazwischen und danach lagen Jahre des gemeinsamen Kampfes gegen Kommunismus, arabischen Sozialismus und Islamismus in der Version Ayatollah Khomeinis. Die Interessenübereinstimmung war so stark, dass sie außerordentlich unterschiedliche Wertvorstellungen in beiden Ländern überdeckte. Ein weiterer wesentlicher Grund für die Kohäsion lag in der enormen Summe von etwa 700 Milliarden US-Dollar, die saudische Investoren in den USA anlegten. [15] Damit ist Saudi-Arabien unmittelbar am Wohlergehen der US-Wirtschaft interessiert. Es entstand quasi ein Kartell aus Erzeugern und Verbrauchern, die beide einen Preis anstreben, der der Gegenseite nicht schadet.

Nach dem 11. September schien es nun bisweilen, als würde alles in Jahrzehnten Gewachsene infrage gestellt. Wirtschaftliche Interessenübereinstimmungen bestanden zwar fort, aber Politiker und Medien in den USA fragten sich jetzt, wie zuverlässig ein verbündetes Land sein kann, aus dem die übergroße Mehrheit der Attentäter stammte. [16] Im Juli 2002 gelangten Ergebnisse einer Studie der Rand Corporation für das Pentagon an die Öffentlichkeit, in der Saudi-Arabien zum Feind erklärt und die USA zu einem Kurswechsel aufgerufen wurden. [17] Vor diesem Hintergrund fand auch eine Verlagerung von 6000 US-Soldaten aus Saudi-Arabien in die "gastfreundlicheren" Emirate Kuwait und Katar statt. Zudem machte die US-Regierung unmissverständlich klar, dass sie klare und nachhaltige Schritte im Kampf gegen den Terror von Saudi-Arabien erwartete. [18] Dazu gehörten aus ihrer Sicht die Bekämpfung, Festsetzung, gegebenenfalls Auslieferung von Terroristen und die Unterbindung jeglicher finanzieller Unterstützung für "dubiose" Empfänger.

Auch im Inland häuften sich die Probleme. Am 6. Oktober 2001 begannen die seit Jahren unterbrochenen Bombenanschläge wieder, als – ein weiteres Mal in al-Khobar – zwei Ausländer, darunter ein US-Amerikaner, getötet und vier verletzt wurden. Autobomben zündeten auch in den folgenden Monaten. Immerhin gestand die Regierung nun Aktivitäten von al-Qaida im Inland ein und damit das Vorhandensein eines erheblichen Terrorproblems. Die Reaktion erfolgte auf zwei Ebenen: zum einen durch den massiven Einsatz des Repressionsapparates und zum anderen durch die Mobilisierung der geistlichen Verbündeten. Am 14. November 2002 lud Kronprinz und Regent Abdallah die höchsten geistlichen Würdenträger zu einer Audienz und verlangte von ihnen, sich öffentlich vom Extremismus zu distanzieren, keine Hassgefühle zu schüren und alle Worte und Taten zu unterlassen, die dem Königshaus schaden könnten. [19] Prediger, die sich nicht an die Abmachung hielten, wurden zu Tausenden gemaßregelt und erhielten Redeverbot. Königshaus und Regierung waren auf der anderen Seite bestrebt, durch ostentative Frömmigkeit die islamistischen Eiferer zu beschwichtigen und eine Art "Wagenburgmentalität" mit den Regierten herzustellen. Mit mindestens ebenso viel (unfreiwilligem?) Zynismus wie beschwörender Hoffnung erklärte der damalige Verteidigungsminister Sultan, der Terror von al-Qaida und anderer Zellen richte sich nicht gegen saudi-arabische Bürger und Institutionen, sondern ausschließlich gegen Ausländer. [20]

Der verheerende Anschlag vom 12. Mai 2003 schien ihm Recht zu geben. Er zielte auf eine überwiegend von Ausländerinnen und Ausländern bewohnte Appartementanlage in Riad und forderte 35 Todesopfer sowie etwa 80 Verletzte. Gleichzeitig kündete der Anschlag aber auch vom Scheitern der Strategie Osama bin Ladens. Die USA zeigten sich durch den 11. September keinesfalls so "ins Mark" getroffen, wie beabsichtigt. Im Gegenteil, sie schlugen – zuerst in Afghanistan – zurück. Es muss daher als Zeichen von Schwäche gelten, wenn al-Qaida auf "weiche" Ziele wie die in Saudi-Arabien auswich. Aber selbst dort blieben Ausländer im Allgemeinen und US-Amerikaner im Besonderen im Visier des Terrorismus. Der Selbstmordanschlag vom 9. November 2003, der in einem vorwiegend von Einheimischen bewohnten Viertel von Riad 17 arabische Opfer forderte, nährte deshalb einen neuen Verdacht. Eine am 5. Januar 2004 veröffentlichte Tonbandbotschaft Osama bin Ladens verschaffte Gewissheit: Ziel von al-Qaida war ab jetzt nicht nur der Puppenspieler, sondern auch die Marionette, weil die Al Saud dem wahren Glauben abgeschworen hätten und unfähig seien, die Muslime zu verteidigen.

 

Lernprozesse


Osamas Botschaft fand allerdings kaum noch den erhofften Widerhall. Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Königsfamilie mit einer unnachsichtigen Verfolgung der gewaltbereiten Islamisten begann. Schon 2004 gelangten spektakuläre Erfolge: Von den zu Jahresanfang veranschlagten 500 bis 600 in Saudi-Arabien wirkenden al-Qaida-Mitgliedern wurden bis Jahresende zwischen 400 und 500 gefangen genommen oder getötet. Das interne Terrorproblem gilt seitdem als unterdrückt. Die nicht getöteten, verwundeten und gefangen genommenen Kämpfer verschwanden nicht, sondern wichen mehrheitlich vor dem Druck ins Ausland aus. Zum anderen zeigte sich, dass die Herrschenden erneut flexibel und lernfähig waren.

Als unmittelbare Reaktion auf den 11. September hatte US-Präsident Bush die Demokratisierung des Nahen Ostens zum Credo seiner Außenpolitik erklärt. Washington sah in Saudi-Arabien besonderen Nachholbedarf. Regent Abdallah wies nun Forderungen der einheimischen Opposition nach demokratischen Umgestaltungen nicht mehr a priori zurück, sondern legte sie auf seine Weise aus. 2003 lud er erstmals die Verfasser einer Petition zum Gespräch ein. Dem damit wieder eröffneten Reigen von Petitionen unterschiedlicher Interessengruppen (unter anderem auch der diskriminierten Schiiten) wurde mit weitaus größerer Offenheit als in der Vergangenheit begegnet. Unmittelbar nach den Anschlägen vom Mai 2003 entstand ein "Konvent zum nationalen Dialog". Damit wurde der Grundstein für ein permanentes "Nationales Dialogforum" gelegt, das bis heute regelmäßig tagt. Ab der dritten Sitzung erhielten auch die Medien Zutritt. Form und thematischer Zuschnitt der Foren zeigten, wie die Al Saud im Allgemeinen und Abdallah – seit 2005 als König – im Besonderen gedachten, den Reformprozess zu gestalten. Der gelenkte Dialog mit auserlesenen Reformern gestattete es der Herrscherfamilie, den Kurs und die Geschwindigkeit der Umgestaltungen selbst zu bestimmen, und demonstrierte der kritischen Weltöffentlichkeit gleichzeitig, dass sie sich ernsthaft um Reformen bemühten.

Nunmehr als König macht sich Abdallah dabei zunutze, dass die liberalen Oppositionellen und Schiitenführer gegenwärtig den Schulterschluss mit ihm suchen, weil die von al-Qaida vertretene ultrawahhabitische Alternative ihren Ansichten und Interessen noch mehr zuwiderlaufen würde. Gegenwärtig bestehen die "Liberalen" nicht einmal mehr auf freie Wahlen, weil sie einen Erfolg der Ultraislamisten fürchten. Insgesamt kommt den Al Saud letztlich entgegen, dass die saudische Gesellschaft zutiefst konservativ eingestellt ist und Bestand dem Wandel vorzieht. Vor diesem Dilemma stehen alle Umstürzler. Die Opposition ist zersplittert und weitgehend unorganisiert, keine Gruppe ist so tief in der Gesellschaft verwurzelt, wie es die Al Saud allein durch Größe, Tradition und Nutzung der verzweigten Klientelbeziehungen sind. Das zeigte sich nicht zuletzt 2011, als zaghafte Versuche, im Gefolge des "Arabischen Frühlings" auch in Saudi-Arabien gesellschaftliche und politische Veränderungen herbeizuführen, im Sande verliefen. Unruhepotenzial ist gegenwärtig noch am ehesten mit den weiterhin diskriminierten Schiiten zu verbinden.

 

Fazit


In Saudi-Arabien besteht nicht nur schlechthin eine Koexistenz zwischen System und Religion, Königshaus und höchste Geistlichkeit leben sogar in einem fast symbiotischen Verhältnis. Die namhaftesten Rechtsgelehrten bescheinigen den Al Saud, in Übereinstimmung mit den Lehren Ibn Abd al-Wahhabs zu leben und zu herrschen und ihrer Aufgabe im Weltislam gerecht zu werden: zum einen als Hüter der beiden heiligsten Stätten des Islam und zum anderen als Förderer und Finanzier islamischer Institutionen in aller Welt. Der Geistlichkeit verhilft der Kontrakt hingegen zu politischen, sozialen, kulturellen, selbst wirtschaftlichen Privilegien in der Gesellschaft, die im internationalen Maßstab wohl nur in Iran übertroffen werden.

Bei der eher zu- als abnehmenden Bedeutung des Islam für Identitätsgefühl und Lebensgestaltung der Saudis geht Gefahr für die religiöse Legitimierung der Al Saud eher von dem Vorwurf aus, den selbst gestellten und von Tradition und Gesellschaft vorgegebenen Maßstäben nicht gerecht zu werden, als etwa zu "fundamentalistisch" oder orthodox zu sein. Seit den ersten Petitionen der Geistlichkeit unmittelbar nach dem Zweiten Golfkrieg sind immer wieder Forderungen einzelner Rechtsgelehrter, politischer Oppositionsgruppen und Prediger nach einem Umdenken der Al Saud beziehungsweise ihrer Rückkehr zu den Fundamenten des Wahhabismus laut geworden. So lange aber die Mehrheit der Bevölkerung davon ausgeht, dass der Vorwurf die Al Saud nicht grundsätzlich trifft, sondern allenfalls in Einzelaspekten beziehungsweise einzelne Mitglieder, und so lange die Königsfamilie durch ostentatives Entgegenkommen in dieser Frage Lernfähigkeit beweist, bleibt diese Legitimitätsgrundlage ihrer Herrschaft stabil.

Insgesamt haben die Al Saud jedenfalls eine erstaunliche politische Regulierungsfähigkeit und Flexibilität entwickelt und bewiesen. Seit dem Beginn des Erdölbooms durchliefen Land und Gesellschaft, über die sie herrschen, einen rapiden Wandel. Die Bevölkerung wuchs rasant, ebenso wie der Grad der Urbanisierung und der allgemeinen Bildung. Gleichzeitig hat Saudi-Arabien aber auch Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession erfahren. 1990/91 war es durch den Zweiten Golfkrieg mit seiner bisher größten Herausforderung konfrontiert.
"If as a result of all these changes (…) and the outcome of the Gulf War there is no more dissent than the current opposition, then the system is likely to survive for quite some time." [21] Auch gegenwärtig kann ein Resümee kaum anders lauten.

 

 

Fußnoten

 

1.  Ein Sprecher des Königshauses bemerkte dazu in – gespielter – Naivität, dass Saudi-Arabien keiner Parteien bedürfe, weil alle Staatsbürger automatisch Mitglieder einer Partei, der Partei Gottes seien. Vgl. Al-Watan vom 10.2.2012.

2.  Vgl. Joseph A. Kechichian, Saudi Arabia’s Will to Power, in: Middle East Policy, 7 (2000) 2, S. 49.

3.  Vgl. Geoff Simons, Saudi Arabia: The Shape of a Client Feudalism, New York 1998, S. 20.

4.  Vgl. Mamoun Fandy, Saudi Arabia and the Politics of Dissent, New York 1999, S. 36f.

5.  Vgl. Joseph A. Kechichian, Succession in Saudi Arabia, New York 2001, S. 137.

6.  Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 36.

7.  Vgl. Madawi al-Rasheed, Political Legitimacy and the Production of History: The Case of Saudi Arabia, in: Lenore G. Martin (Hrsg.), New Frontiers in Middle East Security, Houndmills 1998, S. 40.

8.  Vgl. Country Reports on Human Rights Practices 2001: Saudi Arabia, Washington D.C. 2002, S. 7.

9.  Vgl. Al-Hayat vom 7.7.1997.

10.  Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 195–199.

11.  Vgl. Al-Quds al-arabi vom 1.8.1992.

12.  Vgl. BBC-World, Sendung vom 19.6.2002.

13.  Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 186.

14.  Mit der Kriegserklärung waren Attentate wie das Abd al-Salam Farajs auf den ägyptischen Präsidenten Sadat ausdrücklich auch gegen Angehörige der Al Saud gerechtfertigt. Benjamin Orbach, Usama Bin Ladin and al-Qa’ida: Origins and Doctrines, in: Middle East Review of International Affairs, 5 (2001) 4, S. 19.

15.  Vgl. Moin Siddiqi, The Rise and Rise of an Equity Culture, in: The Middle East, (2005) 11, S. 44.

16.  Vgl. Roula Khalaf, in: Financial Times vom 11./12.9.2004.

17.  Vgl. Washington Post vom 6.8.2002.

18.  Sie stand dabei unter erheblichem Druck seitens des Kongresses, in den im November 2003 ein "Saudi Arabia Accountability Act" eingebracht worden war, der Saudi-Arabien Sanktionen androhte, wenn der US-Präsident nicht "maximale Anstrengungen" der saudischen Regierung im Kampf gegen den Terrorismus bestätige. Vgl. International Crisis Group, Can Saudi Arabia Reform Itself?, ICG Middle East Report Nr. 28 vom 14.7.2004, S. 8.

19.  Vgl. Neue Zürcher Zeitung vom 16.11.2001.

20.  Vgl. Gulf News vom 23.6.2002.

21.  Vgl. M. Fandy (Anm. 4), S. 243.

 

 

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